Als die Nationalsozialisten 1933 in Deutschland an die Macht kamen, war Ruth Weiss ein junges Mädchen. In der Schule wurde sie ausgegrenzt, von anderen Kindern auf der Straße überfallen. Ihre Schwester wurde auf dem Weg nach Hause mit Dreck beworfen und der Vater aus dem Richteramt entlassen. Und all das nur, weil Ruth Weiss und ihre Familie Juden waren.
Die heute 98-Jährige hat am Freitag über all diese Erfahrungen im NRW-Landtag berichtet. Weiss sprach anlässlich des Holocaust-Gedenktages, an dem jedes Jahr am 27. Januar an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert wird. Dem drohenden Krieg konnte ihre Familie damals entfliehen. Ihr gelang 1936 die Flucht nach Südafrika - auf dem letzten Schiff mit jüdischen Geflüchteten, das dort anlegen durfte. Von der Vernichtung der Juden erfuhren sie erst nach dem Kriegsende. "Es war ein großer Schock." Der Bruder des Vaters und Verwandte der Mutter waren unter den Opfern.
Sorgenvoller Blick auf heutigen Antisemitismus
Zu ihren Lehren aus der damaligen Zeit sagte Weiss am Freitag: "Menschen sind unterschiedlich, aber jeder ist gleichberechtigt und gleichwertig." Lobend erwähnte sie die "Vergangenheitsbewältigung der Bundesrepublik" seit den 1960er Jahren, indem die Schuld akzeptiert und recherchiert worden sei.
Doch mit Blick auf die heutige Zeit fand die 98-Jährige mahnende Worte. Weiss erinnerte an die "erschreckende" Razzia bei Reichsbürgern Ende 2022. Außerdem sagte sie: "Muslimischer Judenhass sowie israelbezogener Antisemitismus sind nicht zu übersehen." Juden würden für Corona verantwortlich gemacht und ein jüdischer Komplott behauptet, um die Welt zu regieren.
Nach dem versuchten Anschlag auf die ehemalige Synagoge in Essen berichteten jüdische Freunde, dass sie nun nicht mehr zu Gottesdiensten gingen. Auch über eine Auswanderung werde bei manchen nachgedacht. "Ich hoffe, dass es nicht dazu kommen wird."
Keine Routine beim Gedenken
In einer weiteren Rede erinnerte Zwi Rappoport, Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe, an die Worte des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog, dass der Holocaust-Gedenktag am 27. Januar keine "Alibi-Wirkung" entfalten dürfe. Doch laut einer Umfrage wünsche sich fast die Hälfte der Deutschen, einen Schlussstrich unter die NS-Verbrechen zu ziehen. "Dieses beunruhigende Ergebnis führt uns einmal mehr vor Augen, wie bitter notwendig es ist, solchen Tendenzen auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen entgegenzuwirken." Die kollektive Verantwortung für die Erinnerung an den Holocaust müsse auch den nachfolgenden Generationen vermittelt werden. Gedenktage dürften nicht zur Routine werden.
Rappoport führte vor Augen, dass in NRW heute wieder knapp 30.000 Juden in 22 Gemeinden lebten. Es sei ein "aktives, lebendiges und vielfältiges Judentum" entstanden und die jüdische Gemeinschaft fühle sich in NRW heimisch. "Doch angesichts des grassierenden Antisemitismus bleibt immer auch ein Gefühl der Unsicherheit und des Zweifels. Von einer echten Normalität sind wir weit entfernt." So sei es für Kinder normal, dass die Polizei vor der Synagoge Wache stehe oder sie bei Schulausflügen von Sicherheitspersonal begleitet würden. "Es ist ein Alltag, der sie ständig daran erinnert, dass ihre Lebensrealität eben nicht normal ist."
Politik: Einschreiten bei Unrecht
Unterstützung versicherten NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst und Landtagspräsident André Kuper. "Jeder, der in Deutschland lebt, ist aufgerufen, sich mit dem Schrecken der Vergangenheit immer wieder auseinanderzusetzen", sagte Wüst. Wenn es die Berichte von Überlebenden und Zeitzeugen einmal nicht mehr gebe, werde das Gedenken "sicher schwieriger werden, aber nicht weniger wichtig".
Kuper mahnte, dass der Kampf gegen Antisemitismus und gegen jegliche Intoleranz "für uns alle im unmittelbaren persönlichen Umfeld" beginne. "Schreiten wir ein, wenn Unrecht gegenüber unseren Mitmenschen geschieht!"