Ein Mitarbeiter reinigt im Stahlwerk der Salzgitter AG eine Roheisenpfanne.

Tarifbindung: Immer weniger Unternehmen wollen sich verpflichten

Stand: 19.03.2024, 18:07 Uhr

Immer weniger Unternehmen wollen sich zu festen Tarifverträgen verpflichten. Es fehle auch der Druck von der Landesregierung, sagt der Deutsche Gewerkschaftsbund.

Von Nina Magoley

Es gab mal eine Zeit, da war Nordrhein-Westfalen "Vorzeigeland, was Tarifbindung angeht", sagt Anja Weber, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) in NRW. Im Jahr 2000 hatten fast die Hälfte aller Betriebe hierzulande einen festen Tarifvertrag. Das heißt, die Löhne waren fest und auf einem Niveau, das für die Mitarbeiter einigermaßen akzeptabel war.

2021, gut zwanzig Jahre später, hatten nur noch 30 Prozent aller Betriebe eine Tarifbindung. In diesen Unternehmen arbeiteten insgesamt 58 Prozent aller Beschäftigten.

Nach Angaben der Landesregierung lag die Zahl der Arbeitnehmer, die nach Tarif bezahlt werden, Ende 2022 noch bei immerhin 57 Prozent. Die Landesregierung beobachte diese Entwicklung dennoch mit Sorge, hatte Arbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) damals gesagt. "Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Tarifbindung in Nordrhein-Westfalen."

Dumpinglöhne: Weniger Einnahmen für den Staat

Anja Weber

Anja Weber, Vorsitzende des DGB

Grund für den Rückgang sind nach Einschätzung des DGB NRW die Zunahme von Leiharbeit, Minijobs und befristeten Arbeitsverträgen. Eine Tariftreueregelung gebe es in NRW eigentlich nur noch im ÖPNV. Dabei entgingen dem Staat eine Menge Einnahmen aus NRW, haben die Gewerkschafter ausgerechnet: rund 8,8 Milliarden Euro an Sozialversicherungen und 5,5 Milliarden Einkommensteuer. Außerdem verringerten Dumpinglöhne auch die Kaufkraft der Arbeitnehmer.

Der lange Weg zum Tarifvertrag

Wie zäh der Weg zur festen Tarifbindung eines Arbeitgebers sein kann, erzählt Dennis Schneider, Betriebsratsvorsitzender eines großen Getränkeherstellers mit 400 Mitarbeitern im Ruhrgebiet. Jahrzehntelang habe sich der Arbeitgeber konsequent geweigert, über feste Tarife zu verhandeln.

So hätten verschiedene Mitarbeiter der Firma für dieselbe Arbeit bis zu 700 Euro Lohnunterschied gehabt. Manche hatten sich ein Weihnachtsgeld aushandeln können, andere nicht. Im Vergleich zu anderen, tarifgebundenen Unternehmen aus der Getränkebranche hätten die Kollegen seiner Firma bis zu 1.000 Euro weniger verdient.

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Erst, nachdem sich 2022 ein Betriebsrat gegründet hatte, ließ sich der Arbeitgeber allmählich auf Verhandlungen ein. Inzwischen, sagt Schneider nicht ohne Stolz, stünde man "kurz vor einem Tarifabschluss". In die Karten spielt den Mitarbeitern dabei sicherlich auch die Tatsache, dass die Firma angesichts des allgemeinen Arbeitskräftemangels mittlerweile fürchten muss, dass bei einem Scheitern der Verhandlungen Teile der Mitarbeiterschaft kündigen und sich anderswo in der Branche Jobs suchen.

Keine Tarifbindung bei Amazon, Lieferando, Aldi und Co.

Große Arbeitgeber wie Amazon, Lieferando oder auch die Handelskette TK Maxx sind dagegen weit entfernt von Tarifverträgen. Der Discounter Aldi Süd stieg Anfang der 2000er Jahre aus einer Tarifbindung aus. Nun gebe es bei Aldi für 200.000 geringfügig Beschäftigte in NRW keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, keine Gewährung von Urlaubstagen, sagt Henrike Eickholt von der Gewerkschaft Verdi NRW. "Arbeitgeber möchten selbst entscheiden, wann sie es sich leisten können, die Löhne zu erhöhen", sagt dagegen Michael Grütering, Hauptgeschäftsführer der Unternehmerschaft Düsseldorf und Umgebung.

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DGB sieht Landesregierung in der Pflicht

Aber auch die Landespolitik müsse handeln, fordert die Gewerkschaft. Viele landespolitische Regelungen machten es den Betrieben leicht, Forderungen nach Tarifbindung zu ignorieren. So fordert der DGB von der Landesregierung nicht nur ein "funktionierendes Tariftreuegesetz". Auch müsse die Vergabe von öffentlichen Fördergeldern vom Vorhandensein von Tarifverträgen abhängig gemacht werden – was bislang nicht der Fall ist.

Auf WDR-Anfrage bleibt das Arbeitsministerium weitgehend schwammig: Die Landesregierung unterstütze "eine starke Sozialpartnerschaft und eine möglichst umfassende Tarifbindung". Im Koalitionsvertrag sei "angekündigt, bei der öffentlichen Vergabe tarifgebundene Firmen zu bevorzugen und – wo nötig – neue Regeln zu schaffen". Die Beratungen innerhalb der Landesregierung dazu sollten noch in diesem Jahr abgeschlossen werden, "sodass dann weitere Details der Umsetzung bekannt gegeben werden können".

FDP: "Mehr Bürokratie durch Tarifbindung"

Für die FDP in der Landtags-Opposition dagegen ist klar: Eine Stärkung der Tarifbindung würde am Ende nicht mehr Tariftreue bewirken, "sondern nur mehr Bürokratie und Kontrolle", sagt Fraktionssprecher Tobias Havers auf WDR-Anfrage. "Wer wirklich die Tarifbindung stärken möchte, der sollte den Sozialpartnern mehr Gestaltungsspielraum geben", meint Havers mit Blick auf die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Er nennt als Beispiel "Vereinbarungen zur flexiblen Gestaltung der Arbeitszeit".

AfD: "Freie Unternehmensentscheidungen"

Aus der AfD Fraktion heißt es heute, man respektiere den Wunsch der Gewerkschaften zur Tarifbindung. Man könne aber "angesichts der unverhältnismäßigen Streiks auch verstehen, dass immer mehr Unternehmen sich aus der Tarifbindung zurückziehen." Die Partei achte auf "freie Unternehmensentscheidungen", so der Abgeordnete Christian Loose.

Streiks, soweit das Auge reicht

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