Bildungsmisere: Was NRW für ältere Schüler tun will
Stand: 07.01.2025, 15:05 Uhr
Nicht nur Grundschulkinder, auch viele ältere Schüler haben oft Probleme beim Lesen und Rechnen. Wie will NRW das ändern?
Von Daniela Junghans
Viele Schülerinnen und Schüler in NRW sind nicht ausreichend auf die Arbeitswelt vorbereitet. Darüber klagen Ausbildungsbetriebe ebenso wie Hochschulen. Spätestens seit der Pandemie, aber eigentlich auch schon vorher, gab und gibt es Zweifel daran, dass sie mit ihren Abschlüssen fit sind für Uni oder Lehre.
Belege für das, was Hochschulrektoren und Handwerksmeister beklagen, finden sich in den so genannten IQB-Bildungstrends, die das Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen im Auftrag der Bildungsminister der Länder erstellt. Die Forscher untersuchen regelmäßig, wie gut deutsche Schülerinnen und Schüler verschiedener Altersklassen zum Beispiel Texte verstehen, rechnen können oder Fremdsprachen beherrschen.
Viele Schüler haben Probleme
Schon Grundschüler haben Probleme
Die IQB-Ergebnisse sind schon seit Jahren wenig erfreulich: Als im Jahr 2022 der bis letzte Bericht über die Kompetenzen von Viertklässlern vorgestellt wurde, sorgte das Papier für Entsetzen: rund 30 Prozent der Kinder an Schulen in ganz Deutschland hatten so große Probleme mit der Rechtschreibung, dass sie nicht einmal die Mindeststandards erfüllten. Ähnlich sah es bei Mathematik aus, hier schafften 22 Prozent die Mindeststandards nicht. Die Zahlen für NRW sind in beiden Bereichen noch etwas schlechter als der Bundesschnitt.
Ein Jahr später veröffentlichten die IQB-Wissenschaftler die Testergebnisse von Neuntklässlern, sie waren kaum besser. Beim Lesen (Leseverständnis) erreichten bundesweit 32 Prozent der Schülerinnen und Schüler nicht die Mindeststandards für einen mittleren Schulabschluss. 15 Prozent erfüllten nicht einmal die Mindeststandards für den Ersten Schulabschluss (ESA), hätten also einen Schulabschluss am Ende der 9. Klasse nicht geschafft. Und auch hier lagen NRWs Schüler wieder unter dem Bundesdurchschnitt.
Langfristige Folgen
Die fehlende Kompetenz hat Folgen: Rund 5.400 Schüler in NRW haben die Regelschule im Jahr 2023 ohne Abschluss verlassen, die meisten kamen von Haupt- oder Gesamtschulen. Und selbst wenn die Jugendlichen einen Abschluss schaffen, heißt das noch nicht, dass sie bereit für eine Lehrstelle sind. Immer wieder klagen zum Beispiel Handwerksbetriebe über fehlende Kompetenzen ihrer Auszubildenden.
Ähnliche Klagen kommen, mit Blick auf die Abiturienten, aus den Hochschulen. Erst kürzlich meldete sich Professor Johannes Wessels, Rektor der Universität Münster und gleichzeitig Vorsitzender der Landesrektorenkonferenz NRW. Die Schulabschlüsse seien "qualitativ nicht mehr so hochwertig, dass Studierende leicht den Weg ins Studium finden", beklagte er im November 2024. Das gelte vor allem für Fächer im MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik).
Viele verschiedene Ursachen
Schuld ist nicht eine einzelne Entwicklung, sondern eine Mischung aus mehreren Veränderungen. Die Corona-Pandemie habe die Entwicklung sicher verstärkt, sagt NRWs Schulministerin Dorothee Feller (CDU), aber: "Wir machen es uns zu einfach, wenn wir sagen, es liegt nur an Corona."
Die Kinder kämen zum Beispiel heute mit einem deutlich geringeren Wortschatz in die Schule als früher. Unter anderem, weil zuhause nicht mehr so viel vorgelesen werde. Die Schulklassen sind heute auch gemischter als vor einigen Jahrzehnten: Es gibt mehr Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, in deren Familien meist eine andere Sprache gesprochen wird. Außerdem wird bei mehr Kindern in den regulären Klassen Förderbedarf festgestellt als es früher der Fall war.
Beim Thema Mathematik sieht Feller noch eine weitere Ursache: den Umgang der Gesellschaft mit Rechnen und Mathematik. Jeder kenne Menschen, die damit kokettierten, dass sie nicht rechnen könnten. "Das müssen wir sein lassen", meint Feller, denn "wir erzeugen damit den Eindruck, Rechnen sei etwas ganz Schwieriges. Das ist es aber gar nicht."
Mehr Zeit für die Basiskompetenzen
Schulministerin Dorothee Feller
Auch im NRW-Schulministerium hat man das Problem erkannt und sucht nach Lösungen. Ministerin Dorothee Feller will vor allem bei den Jüngsten ansetzen, also den Grundschülern. Sie haben erst kürzlich mehr Zeit fürs Lesen- und Rechnen-Lernen bekommen. Die Hoffnung der Ministerin: So könnten Probleme schon in den ersten Schuljahren behoben werden oder gar nicht erst entstehen.
Doch was ist mit den Schülerinnen und Schülern, die längst auf der weiterführenden Schule sind, vielleicht schon ein oder zwei Jahre vor ihrem Abschluss stehen? Ein vergleichbares Programm wie bei den Grundschülern gibt es für sie nicht. Feller möchte aber das Material zur Förderung der Lese-, Schreib- und Rechen-Kompetenz, das ihr Haus für Grundschüler entwickelt hat, auch für ältere Kinder anpassen lassen. Für die Klassen 5 und 6 habe NRW das schon getan, jetzt sollen die übrigen Stufen kommen, bis Klasse 9, verspricht die Ministerin. So soll sichergestellt werden, dass "auch in den weiterführenden Schulen die Basiskompetenzen immer mal wieder wiederholt werden".
Opposition: Lehrpläne entrümpeln, weniger Klassenarbeiten
Aus Sicht der SPD im NRW-Landtag reicht das längst nicht aus: die Lehrpläne seien überfrachtet und müssten dringend überarbeitet werden, dann bliebe auch mehr Zeit für anderes, betont die schulpolitische Sprecherin der Fraktion, Dilek Engin. Sie weist auf die Folgen des Lehrermangels hin und schlägt auch eine Reduzierung der Zahl der Klassenarbeiten vor. Stattdessen müsse sich die Schule "auf das Wesentliche konzentrieren", gerade bei Schülerinnen und Schülern, die kurz vor dem Abschluss stehen.
Auch der Gewerkschaft Bildung und Erziehung (GEW) gehen die Pläne der Ministerin nicht weit genug. "Die Klassen müssen kleiner werden", fordert die Landesvorsitzende Ayla Celik. Wie die SPD spricht auch sie sich für weniger Klassenarbeiten aus, außerdem fordert Celik "mehr Zeitressourcen für individuelle Förderung und eine Ausbildung, die die Lehrkräfte auf die gelebte Wirklichkeit vor Ort in den Schulen vorbereitet."
Quellen:
- Interviews mit Schulministerin Dorothee Feller, SPD-Politikerin Dilek Engin und GEW-Landesvorsitzender Ayla Celik
- IQB-Bildungstrends
- Pressekonferenz der Hochschulrektoren vom November 2024
- eigene Recherche