Digitalatlas Armut: Wahlbeteiligung sinkt in ärmeren Kommunen

Stand: 27.11.2022, 06:00 Uhr

Wer arm ist, hat viele Sorgen - zumindest andere als Gutverdiener. Gehört die Sorge um die politische Zukunft des Landes auch dazu? Wir haben die Wahlbeteiligung in NRW analysiert.

Von Rainer StriewskiRainer Striewski und Elena Riedlinger (Auswertung)

Das Ruhrgebiet war lange Anziehungspunkt für jeden, der Arbeit suchte. Die größte europäische Industrieregion bot vielen aus dem In- und Ausland nicht nur Beschäftigung, sondern auch ein gutes Einkommen. Doch die Zeiten haben sich geändert. Mit dem Jobabbau in der Schwerindustrie stiegen die Arbeitslosenzahlen: Unter allen kreisfreien Städten und Landkreisen in Deutschland hatte Gelsenkirchen im vergangenen Jahr die höchste Arbeitslosenquote. Ebenfalls mit an der Spitze: Duisburg, Hagen und Dortmund.

Auch bei der Berechnung der Arbeitslosenzahlen auf Gemeindeebene in NRW (siehe Infokasten unten) sticht Gelsenkirchen zusammen mit dem Ruhrgebiet deutlich heraus:

Führend ist Gelsenkirchen auch bei der Zahl der überschuldeten Verbraucherinnen und Verbraucher. 16,94 Prozent gelten hier als überschuldet, können also mit ihrem Vermögen oder Einnahmen nicht mehr die laufenden Kosten decken. Ähnlich hohe Werte verzeichnen Herne, Duisburg oder auch Hagen.

Das hat Auswirkungen, die weit über das Kaufverhalten und die örtliche Wirtschaft hinausgehen - auch auf die Politik?

Wahlinteresse sinkt in ärmeren Kommunen

Mithilfe eines statistischen Verfahrens ("multiple Regression", siehe Hinweis zur Berechnung unten) haben wir untersucht, welche Faktoren einen Zusammenhang mit der Wahlbeteiligung aufweisen. Diese lag bei der letzten Landtagwahl im Mai 2022 bei nur 55,5 Prozent, fiel regional aber sehr unterschiedlich aus. Während in Monschau 72,05 Prozent der Stimmberechtigten zur Wahl gingen, waren es in Werdohl nur 43,94 Prozent. In Gelsenkirchen fiel die Wahlbeteiligung mit 44,45 Prozent ebenfalls sehr gering aus - wie auch in Duisburg mit 46,82 Prozent oder Herne mit 47,02 Prozent.

Nach unserer Analyse zeigen sich einige Zusammenhänge zwischen verschiedenen demografischen, sozialen Faktoren und der Wahlbeteiligung in einer Kommune. So geht etwa ein höherer Anteil junger Menschen (17 bis 20 Jahre) oder auch ein höherer Ausländer-Anteil mit einer geringeren Wahlbeteiligung in einer Gemeinde einher.

Dort, wo viele Pendler wohnen, ist die Wahlbeteiligung hingegen höher. Es ist naheliegend, dass es sich hierbei um "Speckgürtel-Gemeinden" in der Nähe größerer Städte handelt, in denen Menschen mit einem höheren Einkommen leben.

Wahlbeteiligung sinkt mit steigenden Arbeitslosenzahlen

Nach unseren Berechnungen sinkt die Wahlbeteiligung um 1,2 Prozentpunkte, wenn der Anteil Arbeitsloser an den Erwerbspersonen in einer Gemeinde um 1 Prozentpunkt steigt. Dort, wo mehr Menschen mit einem höheren Einkommen leben, ist nach unserer Analyse auch die Wahlbeteiligung höher.

Insgesamt zeigt unsere Analyse deutlich, dass Faktoren der sozialen Ungleichheit bei der Wahlbeteiligung eine große Rolle spielen. So geht eine höhere Arbeitslosenquote mit einer niedrigeren Wahlbeteiligung einher. Armut spiegelt sich also auch in geringerer politischer Teilhabe wider.

So haben wir gerechnet

Zusätzlich zur bekannten Wahlbeteiligung haben wir die soziale Struktur einzelner Gemeinden erfasst und ausgewertet, etwa die Bevölkerungsdichte, durchschnittliches verfügbares Einkommen pro Person, kommunale Verschuldung etc. Rechnen mussten wir auch bei der Arbeitslosenquote. Die legt die Bundesagentur für Arbeit zwar jährlich für viele Gemeinden vor, aber nicht für kleinere mit weniger als 15.000 Erwerbspersonen. Daher haben wir für alle Gemeinden aus den vorhandenen absoluten Arbeitslosenzahlen und der Anzahl der Erwerbstätigen eine Arbeitslosenquote (Anteil Arbeitsloser an den Erwerbspersonen) berechnet. Als Gesamtheit der Erwerbspersonen gilt in diesem Fall die Summe der Arbeitslosen und der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.

Datenauswertung: Elena Riedlinger und Urs Zietan mit wissenschaftlicher Beratung von Prof. Dr. Bernd Schlipphak (Institut für Politikwissenschaften Universität Münster).

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