Digitalatlas Armut: Pflege wird teurer - und das Armutsrisiko im Alter steigt
Stand: 27.11.2022, 06:00 Uhr
Ältere Menschen sind in NRW offenbar immer mehr auf den Staat angewiesen, um im Alltag finanziell über die Runden zu kommen. Die Kosten steigen, besonders bei der Pflege. Damit steigt auch das Armutsrisiko im Alter.
Von Anna Kirberich
Die Ausgaben für Sozialhilfen in Nordrhein-Westfalen zeigen einen eindeutigen Trend: und zwar nach oben. Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung stellte 2021 den größten Posten dar. Im Vergleich zum Vorjahr stiegen die Ausgaben landesweit um 7,8 Prozent.
Grundsicherung und Hilfe zur Pflege steigen stark an
Mit fast 1,2 Milliarden Euro unterstützten die Kommunen außerdem die Menschen in NRW, um Pflegeleistungen bezahlen zu können. Die sogenannte "Hilfe zur Pflege“ kam damit auf den zweiten Platz der Ausgabenliste in 2021. Die Tendenz von 2020 auf 2021: ebenfalls steigend.
Ein Blick auf einzelne Städte und Kreise zeigt einen fast flächendeckenden Trend: Im Jahresvergleich mussten die Kommunen mehr Geld bei der Hilfe zur Pflege zuschießen. Nur im Kreis Düren weisen die Daten mit minus 7,3 Prozent in eine gegenteilige Richtung. Wie kann das sein? Brauchen die älteren Menschen dort sogar weniger staatliche Unterstützung? Auf Nachfrage des WDR erklärte der Kreis den stark rückläufigen Trend mit Personalengpässen in den beiden Jahren. Die Folge: Zahlungen seien nicht in die Statistik „Hilfe zur Pflege“ eingeflossen – also damit unvollständig.
Vor allem stationäre Pflege wird teurer
Auf WDR-Nachfrage bestätigen Kommunen aber grundsätzlich den Trend, dass die Summe der Sozialhilfeleistungen für ältere Menschen in der Pflege wächst. Die Stadt Herne beispielsweise verzeichnete von 2020 auf 2021 deutlich gestiegene Mehrausgaben in Höhe von 28,7 Prozent. Dazu schreibt die Stadt: "Bei der Hilfe zur Pflege ist der signifikante Anstieg weitgehend auf die Kostensteigerungen im Bereich der stationären Pflege (Pflegeeinrichtungen) zurückzuführen. Die Pflegekassen haben ihre vorrangingen Leistungen nicht erhöht, so dass die Kostensteigerungen ausschließlich von den Bewohnerinnen und Bewohnern selbst bzw. dann von der Sozialhilfe zur tragen sind.“
Auch im Kreis Unna schlugen Kostensteigerungen vor allem in Pflegeheimen mit einem Plus von insgesamt 17,3 Prozent zu Buche. Für Wuppertal gibt es ein Plus von 32,2 Prozent. Die Stadt verweist jedoch darauf, dass die Zahl wegen unvollständiger Daten auch kleiner ausfallen könnte.
Pflegeheim: Renter geraten in finanzielle Probleme
In vielen Städten und Kreisen werden die steigenden Kosten in Pflegeheimen immer mehr zu einem Problem. Der Grund: Die Bewohner müssen neben den Pflegeleistungen auch Kosten für Unterbringung und Verpflegung aufbringen. Dazu kommen weitere Einrichtungskosten beispielsweise für Investitionen. Alles was von der Pflegeversicherung nicht abgedeckt wird, müssen die Bewohner mit einem Eigenanteil selbst zahlen. Und dieser finanzielle Anteil, den die Bewohner leisten müssen, steigt seit Jahren.
Die durchschnittliche finanzielle Belastung eines Pflegebedürftigen in einer stationären Einrichtung lag nach Angaben des Verbands der Ersatzkassen (vdek) Mitte 2021 in NRW bei 2.496 Euro im Monat. Bei diesen Kosten geraten Senioren mit einer Durchschnittsrente in finanzielle Schwierigkeiten. Aber selbst Rentner, die ihr Leben lang recht gut verdient haben, kommen ins Trudeln.
Ein Armutsrisiko - auch für die Mittelschicht
"Auch Menschen mit Erspartem können die hohen Kosten auf Dauer nicht aufbringen und werden später zum Sozialfall“, sagt Carsten Ohm vom VDK. "Davon sind auch Menschen mit einem Haushaltseinkommen von zwei- bis dreitausend Euro betroffen. Bei Pflegegrad 5 reicht das nicht mehr aus. Wenn dann der Ehepartner im Pflegeheim und der andere noch zu Hause lebt, reicht das hinten und vorne nicht mehr.“
Sozialverbände warnen: Kosten werden weiter steigen
Auch Sebastian Riebandt vom Paritätischen Wohlfahrtsverband stellt fest, dass die Lücke zwischen den Einkommen aus der Rente und den Kosten für einen Heimplatz immer weiter auseinander geht. Beide Sozialverbände sehen in den nächsten Jahren keine Entspannung, auch wenn der Bund seit 2022 versuche, mit Entlastungen entgegen zu wirken. Die Belastungen würden wegen der hohen Energie- und Lebenshaltungskosten, aber auch wegen der höheren Löhne für die Pflegekräfte eher weiter steigen.
"Wir benötigen eine Pflegevollversicherung, die auch für die Kosten der Unterkunft aufkommt und stärker mit Steuermitteln finanziert wird“, sagt Carsten Ohm vom VdK. Auch Sebastian Riebandt vom Paritätischen Wohlfahrtsverband glaubt, dass es so nicht weitergehen kann. In den kommenden fünf bis zehn Jahren werde die Zahl der Pflegebedürftigen weiter nach oben gehen und damit auch die Ausgaben für die Hilfe zur Pflege.
Immer mehr ältere Menschen brauchen Grundsicherung
Sozialforscher Volker Kersting von der Ruhr Universität Bochum hält es auch für möglich, dass künftig grundsätzlich mehr alte Menschen auf Sozialleistungen angewiesen sind. Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist schon jetzt wegen steigender Mieten und der Inflation ein großer Kostenfaktor für die Kommunen. Und auch die Zahl der Menschen in NRW, die Sozialleistungen im Alter beantragen müssen, steigt jetzt bereits: In 2021 waren es im Vergleich zu Vorjahr 4,3 Prozent. In manchen Städten wie Bottrop oder Herne liegt das Plus mit 7,4 Prozent und 8,2 Prozent bei den Senioren sogar über dem Landesschnitt.
Ein Trend, der sich so weiter fortsetzen könnte. "Die Grundsicherung im Alter folgt ja oft zwangsläufig auf den Bezug von Hartz IV“, sagt der Sozialforscher Kersting. Er hat sich genauer angeschaut, welche Altersgruppen von Hartz IV besonders betroffen sind. "Kinder sind in den ersten Lebensjahren extrem stark betroffen. Wir sprechen im Ruhrgebiet über Quoten von bis zu 40 Prozent, aber die Quoten sind auch am Ende der Alterspyramide nicht gering – also im Alter von 60 Jahren und mehr.“
Und auch Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten oder zwischendurch längere Zeit arbeitslos waren, könnten später von der Grundsicherung im Alter abhängig sein. "Das wird eine zusätzliche Herausforderung für die Sozialsysteme und die Kommunen in den kommenden Jahren“, ist sich Volker Kersting sicher.