Digitalatlas Armut: Wer arm aufwächst, merkt das in der Bildung lebenslang
Stand: 27.11.2022, 06:00 Uhr
In armen Kommunen mit vielen Sozialhilfeempfängern gibt es viel weniger Plätze an Kitas und in Ganztagsgrundschulen als anderswo in NRW. Dabei sagen Forscher: Die ersten drei Lebensjahre sind für Kinder in ihrer Entwicklung entscheidend.
Von Martina Koch
"Wenn Kinder Autos wären, dann hätten sie eine unglaubliche Lobby, gerade arme Kinder", stellt Sozialforscher Volker Kersting ernüchtert fest. Jahrelang hat er an der Ruhr-Universität Bochum die Bildungschancen von Kindern in den Kommunen untersucht. In den überschuldeten Ruhrgebietsstädten seien die am schlechtesten, so Kersting.
Höchste Kinderarmut und am wenigsten Kitaplätze
Beispiel Gelsenkirchen. Hier leben 39 Prozent der Kinder in Armut, also in Familien, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Aber nicht einmal für jedes fünfte Kind unter drei Jahren gibt es einen Kitaplatz.
Damit liegt Gelsenkirchen ganz hinten im Land. Und auch in Duisburg, Hagen oder Herne fehlen viele Plätze. In Ruhrgebietskommunen ist die Situation besonders angespannt. In Münster wiederum liegt die U3-Betreuungsquote bei 40 Prozent. Coesfeld und Düsseldorf sind in einem ähnlichen Bereich.
Sozialforscher Kersting sieht in der schlechten U3-Betreuungsquote die Ursache der Bildungsmisere im Land. Wesentliche Fähigkeiten wie Koordination, Motorik oder Sprache würden Kinder am besten in den ersten drei Lebensjahren lernen, das hätten Untersuchungen gezeigt. In der Schule sei es eigentlich zu spät, noch alles aufzuholen.
Benachteiligung setzt sich an der Schule fort
Um benachteiligte Kinder umfassend zu fördern, fehlen den Schulen oft die Möglichkeiten. In Gelsenkirchen wird seit Schuljahresbeginn an allen Grundschulen eine Unterrichtsstunde weniger erteilt, bestätigt die Bezirksregierung Münster auf WDR-Anfrage. Die Schulen könnten die Stunde in Kunst, Musik oder Religion streichen. Hintergrund sind fehlende Lehrkräfte.
In Gelsenkirchen sind aktuell 51 Stellen für Grundschullehrkräfte nicht besetzt. So setzt sich die Benachteiligung der Kinder fort. 7,8 Prozent der Jugendlichen haben im vergangenen Jahr die Schule ohne Abschluss verlassen - mehr als dreimal so viele wie im Landesschnitt. Zum Vergleich: in Kommunen mit viel höherer U3-Betreuungquote läuft es besser in der Schule. In Coesfeld nur 1,7 Prozent Schulabgänge ohne Abschluss und in Münster 1,9 Prozent - beide Kommunen sind besser als der Landesschnitt.
Kommunen im Ruhrgebiet fehlt das Geld
Hohe Arbeitslosigkeit macht Gelsenkirchen zu schaffen
Das lässt die Gelsenkirchener Bildungsdezernentin Anne Heselhaus nicht kalt und soll analysiert werden. Jedes Kind müsse eine Chance auf eine Bildungsbiografie ohne Brüche bekommen, so Heselhaus. Aber in die finanzschwache Ruhrgebietsstadt seien in letzten Jahren durch Zuwanderung deutlich mehr Kinder gekommen als in andere Kommunen. Und durch die gestiegenen Baukosten könnten nicht so viele neue Kitas gebaut werden. Hinzu kommt, dass viele Kommunen, besonders im Ruhrgebiet, überschuldet sind. Deshalb erwartet man mehr Unterstützung vom Land.
Landesregierung verspricht mehr Geld für Kitas
Das zuständige NRW-Familienministerium will einen Pakt gegen Kinderarmut auflegen. Außerdem werde bis Ende Dezember der neue Index zur Erhöhung der Finanzierung ab nächsten Kindergartenjahr veröffentlicht, der die Kostensteigerungen der jüngsten Vergangenheit abbildet, teilt das Ministerium dem WDR mit.
Sozialforscher wie Volker Kersting erwarten endlich ein Umdenken und große Investitionen in die frühkindliche Bildung. Denn bislang gehe es mehr um Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Und da würden vor allem Alleinerziehende in einem Teufelskreis landen: Ohne Job kein Kitaplatz und ohne Betreuung keine Arbeit.
Über das Thema berichtet der WDR auch in der Sendung Westpol am 27.11.2022, ab 19:30 Uhr.