Eine Krawatte mit Krawattenknoten gebunden

Krawatte am Hals: Spießer-Symbol oder Coolness-Accessoire?

Stand: 11.03.2024, 12:27 Uhr

Umsätze sinken, Hersteller klagen: Die Krawatte verliert an Bedeutung und wird immer seltener getragen. Doch nun entdeckt die junge Generation sie als provokantes Stilmittel für sich.

Von Ingo NeumayerIngo Neumayer

Schlips, das war sein letztes Wort! Jahrzehntelang gab es keine Diskussionen, wenn ein Mann, der ernst genommen werden wollte, zum Kleiderschrank ging. Der Griff zur Krawatte war dann unumgänglich. Diese Regel galt viele Jahrzehnte lang: in Politik und Wirtschaft, bei feierlichen Anlässen und seriösen Auftritten.

Doch die Ansichten und die Kleiderordnungen haben sich gelockert, und mit ihnen das obligatorische Stück Stoff um den Männerhals. Die Krawatte gehört längst nicht mehr überall zur Pflichtausstattung. Das merken auch die Produzenten und Importeure, und das schon seit Jahren.

Vom Muss zum Kann zum Brauchichnicht: Die Krawatte im Wandel der Zeit

Einen praktischen Nutzen hat die Krawatte zwar nicht, aber dennoch galt sie lange als unverzichtbar. Das hat sich geändert - in nahezu allen Bereichen.

September 1949. Regierungskoalition der CDU/CSU, FDP u. DP:Das Kabinett Adenauer stellt sich vor

Einer der Bereiche, in denen jahrzehntelang nichts ging ohne Krawatte, war die Politik. Das beweist ein Blick auf das erste Kabinett der Bundesrepublik aus dem Jahr 1949: Alle sind alt, alle sind männlich, alle sind weiß - und alle tragen Krawatten.

Einer der Bereiche, in denen jahrzehntelang nichts ging ohne Krawatte, war die Politik. Das beweist ein Blick auf das erste Kabinett der Bundesrepublik aus dem Jahr 1949: Alle sind alt, alle sind männlich, alle sind weiß - und alle tragen Krawatten.

Jahrzehntelang war die Krawatte nicht wegzudenken in Politik und Wirtschaft. Doch im neuen Jahrtausend änderte sich das. Zum Beispiel in Griechenland: Als sich 2015 der Ministerpräsident Alexis Tsipras und sein Finanzminister Yanis Varoufakis regelmäßig auch auf offiziellen Terminen ohne Krawatte zeigten, gab es viel Kritik.  Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi schenkte seinem Amtskollegen Tsipras sogar ein Modell - natürlich aus italienischer Fertigung. 

Doch nur sieben Jahre später krähte kein Hahn mehr nach dem fehlenden Stück Stoff am Hals. Als sich 2022 auf Schloss Elmau die Staatschefs der führenden Wirtschaftsnationen trafen, verzichteten sie alle darauf - von Macron bis Biden, von Scholz bis Johnson.

Auch in den Vorständen von DAX-Unternehmen ist die Krawatte längst kein Muss mehr. So leger präsentierten sich der Covestro-Vorstandsvorsitzende Markus Steilemann (li.) und Finanzvorstand Christian Baier bei der jüngsten Bilanzpressekonferenz.

Und selbst bei der "Tagesschau" ist sie keine Pflicht mehr - zumindest an manchen Sendeplätzen. Als sich Jan Hofer Ende 2020 zu seinem Abschied den Schlips auszog, war das noch etwas Besonders. Inzwischen verzichten Nachrichtensprecher wie André Schenke regelmäßig darauf - wenn auch nicht um 20 Uhr.

2019 wurde Trompeter Till Brönner vom Deutschen Modeinstitut zum letzten "Krawattenmann des Jahres" gekürt. Seitdem wird der Preis, den es seit 1965 gab, nicht mehr verliehen. Brönner selbst scheint übrigens auch eine On/Off-Beziehung zum Schlips zu haben: Als ihm 2019 der NRW-Landesverdienstorden verliehen wurde, trug er keinen.

Sich fein rausputzen für die Oscars? Nur nichts übertreiben, dachte sich wohl Bradley Cooper. Ob es daran lag, dass er im Rennen um den Award für die beste männliche Hauptrolle leer ausging? Der Sieger Cillian Murphy trug übrigens etwas am Hals - und zwar eine Fliege.

Interessant ist, dass Politiker und Wirtschaftsbosse immer öfter auf Krawatten verzichten, dafür aber laute Rockbands sich gerne darin zeigen - hier zum Beispiel die Hives aus Schweden.

Und auch Superstar Billie Eilish zieht sich gerne mal eine Krawatte an. Angesichts ihrer Millionen von Fans, die sich an ihrem Style orientieren, ist es kein Wunder, dass Modeexperten ein Comeback der Krawatte vorhersagen. Gerade bei jüngeren Menschen gelte diese als provokantes Mittel, um sich abzugrenzen und aufzufallen.

Umsätze sinken dramatisch: Krawattenproduzenten haben einen Hals

Laut Zahlen des Statistischen Bundesamts, die der Modeverband Germanfashion zur Verfügung stellte, sind die Krawattenimporte nach Deutschland in den zehn Jahren von 2014 bis 2023 um zwei Drittel geschrumpft. Demnach wurden 2014 noch 14,4 Millionen Krawatten und Fliegen in die Bundesrepublik importiert, 2023 waren es nur noch knapp 4,8 Millionen. Auch die Ausfuhren sind um knapp 60 Prozent geschrumpft - von 5,2 auf 2,1 Millionen Stück.

Derzeit gibt es nur noch einen Hersteller, der Krawatten in Deutschland produziert: Ascot aus Krefeld, der sich mit seiner Schwesterfirma Henley auf hochwertige Seidenkrawatten spezialisiert hat. Aber auch dort befindet man sich wirtschaftlich "in einem äußerst schwierigen Fahrwasser", sagte Ascot- Chef Jan Moese.

Home Office und Casual Wear verstärken Niedergang der Krawatte

Gründe dafür gibt es viele. Der Trend zu Casualwear sei seit Jahren ungebrochen, sagt Axel Augustin, Geschäftsführer des Handelsverbands Textil Schuhe Lederwaren in Köln. Krawatten würden nur noch selten getragen. Selbst in Politik und Wirtschaft sieht man immer öfter wichtige Akteure ohne Schlips und leger mit offenem Hemd.

Bradley Cooper kommt zur Oscar-Verleihung im Dolby Theatre in Los Angeles

Krawattenlos zu den Oscars: Bradley Cooper

Dazu kommt: Immer mehr Männer arbeiten im Home Office, und dort legt man eben weniger Wert auf Chic, als wenn man den Kolleginnen und Kollegen im Büro Auge in Auge gegenübertritt. Jogginghose statt Zweireiher heißt für viele das Motto in der Arbeitswelt.

Doch ganz abschreiben sollte man das Kleidungsstück, das seit dem 17. Jahrhundert Männerhälse ziert, auf keinen Fall. Denn schließlich gibt es immer noch festliche Anlässe, bei denen man als Krawattenabstinenzler zumindest auffällt, wenn nicht gar kritisch beäugt wird.

Entdeckt die junge Generation die Krawatte als "Provokation" für sich?

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Billie Eilish: Vorreiterin einer Gegenbewegung?

Und es gibt offenbar eine Gegenbewegung. Gerade in der jungen Generation meinen Fashion-Beobachter einen Trend zur Krawatte zu bemerken. Die Mode-Zeitschrift "Vogue" kommentiert die aktuelle Situation: "Der Mann ist zurück! Mit Anzügen und Krawatten empfiehlt der kommende Herbst eine Rückkehr zur traditionellen Maskulinität." Tatsächlich zeigen sich Popstars wie Harry Styles und Billie Eilish in letzter Zeit wieder regelmäßig mit Schlips. Die "Neue Züricher Zeitung", glaubt sogar, die Krawatte sei "zum Mittel der feinen Provokation mutiert. Wer cool ist, trägt das Symbol der einst Uncoolen zur Schau".

Bleibt nur noch eine Frage: Was tragen die heutigen Uncoolen: Weiße Sneaker? Oder sind es doch die engen Hosen? Denn wir wissen ja alle: Modeaccessoires sind wie Zombies - irgendwann kommen sie wieder.

Unsere Quellen:

  • dpa
  • Statistisches Bundesamt
  • Vogue
  • Neue Zürcher Zeitung

Über dieses Thema berichten wir im WDR am 11.03.2024 auch im Hörfunk: WDR 5 Nachrichten, 8.30 Uhr.

Krawatte am Hals: Spießer-Symbol oder Coolness-Accessoire

WDR Studios NRW 11.03.2024 00:18 Min. Verfügbar bis 11.03.2026 WDR Online