Wolfgang Landmesser im Forschungszentrum Jülich |sv 00:38 Min. Verfügbar bis 28.05.2026

Google Maps fürs Gehirn: In Jülich entsteht der weltweit erste "Hirnatlas" in 3D

Stand: 28.05.2024, 12:50 Uhr

Der europäische Hotspot für Hirnforschung liegt in NRW: Das Institut für Neurowissenschaft und Medizin am Forschungszentrum Jülich. Dort entsteht ein dreidimensionaler Atlas des menschlichen Gehirns.

Von Wolfgang Landmesser

Laborchef Markus Axer klappt eine Glasplatte nach oben. In der Vertiefung darunter liegt ein Teil eines tief gefrorenen menschlichen Gehirns. Mit einem speziellen Schneidegerät trennen seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter feinste Scheiben ab – im Prinzip wie bei einer Wurst, ganz dünn.

Präparieren eines Gehirnschnitts | Bildquelle: Mareen Fischinger, Forschungszentrum Jülich

"Unsere Laborassistenten brauchen sehr viel Feingefühl, um rauszufinden: Jetzt muss ich nachkühlen oder jetzt muss ich warten, dass es noch ein bisschen wärmer wird", sagt Markus Axer. Das Gehirn muss zum Schneiden genau die richtige Temperatur haben.  

Das Gehirn in superdünnen Scheiben

Aktuell liegt die so genannte Broca-Zentrum unter dem Messer, die für Sprache zuständige Gehirn-Region. Tausendstel Millimeter dünn sind die Scheiben. Sie werden in Glycerin eingelegt und zwischen zwei Glasplättchen fixiert.

Vermessung eines Gehirnschnitts | Bildquelle: Mareen Fischinger, Forschungszentrum Jülich

Um die Gehirnstruktur bis in die letzte Faser sichtbar zu machen, benutzen Markus Axer und sein Team so genannte Polarisatoren. Das sind spezielle Filter, die Licht nur in einer Richtung durchlassen – und in einem Hirnschnitt Kontraste darstellen. "Die Stärke der Kontraste hängt davon ab, wie die Ausrichtung der Nervenfaserbahnen ist", erklärt Hirnforscher Markus Axer. "Das machen wir uns bei der Messung zunutze."

Navigator für Hirnfunktionen

In einer schwarzen Box wird das Hirngewebe abfotografiert, während sich die Filter drehen. Die Aufnahmen von nur einem Hirnschnitt haben ein Datenvolumen von einem Terabyte oder tausend Gigabyte.

Der Supercomputer des Forschungszentrums bereitet die Daten auf. Daraus bauen die Forscher dann ihren dreidimensionalen Hirnatlas. Der funktioniert ähnlich wie Google Maps, sagt Katrin Amunts, Leiterin des Instituts für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich: "Man kann auch in den Hirnatlas hineinzoomen und sich bestimmte Regionen genauer anschauen."

Die Innovation: Aufgrund der detaillierten Aufnahmen von mehreren menschlichen Gehirnen lässt sich viel genauer als bisher lokalisieren, wo im Gehirn die unterschiedlichen Funktionen angesiedelt sind.

Feuerwerk an Farben

Auf einem großen Screen im Labor leuchtet ein Hirnquerschnitt in bunten Farben: feuerrot, tintenblau, neongrün.

Das Modell zeigt, wie die Nervenfasern im Gehirn verlaufen. Eine so genannte Traktografie. Hirnforscher Markus Axer ist immer wieder fasziniert: In einigen Bereichen laufen die Fasern in die gleiche Richtung. In anderen Gehirnteilen gibt es wechselnde Richtungen. "Und noch lustiger ist das im Kleinhirn." Auf dem Bildschirm ist zu sehen, dass die Hirnfasern dort noch bunter und stärker verästelt sind.  

Laborchef Markus Axer erklärt Hirnquerschnitt | Bildquelle: Wolfgang Landmesser, WDR

Die Forscherinnen und Forscher sind dabei, das Gehirn immer weiter auszuleuchten. Das passiert zusammen mit vielen anderen europäischen Instituten – auf der Forschungsplattform "Ebrains".

Konkreter Einsatz bei Epilepsie

Die Hirn-Modelle sind für die wissenschaftliche Community weltweit verfügbar – und schon konkret in der Anwendung. Zum Beispiel bei der Operation von Epilepsie-Patienten. Mithilfe des Hirnmodells planen die Neurologen, wo genau sie das Skalpell ansetzen müssen.

An Krankenhäusern in Frankreich läuft aktuell eine klinische Studie mit 400 Patientinnen und Patienten. "Ziel ist es, genau herauszufinden, ob die Vorbereitung der Operation mit Hilfe des Hirnmodells wirklich zum Nutzen des Patienten ist und zu einer Verbesserung führt", erklärt Neurowissenschaftlerin Katrin Amunts.

Einsatz auch in der KI

Die dreidimensionalen Modelle sollen helfen, das Gehirn immer besser zu verstehen – und damit auch Künstliche Intelligenz fitter zu machen. Zum Beispiel beim Antrainieren des menschlichen Orientierungssinns. "So können sich Roboter mit möglichst wenig Energieaufwand in unbekannten Terrains orientieren", sagt die Hirnforscherin.

3-D-Atlas fürs Gehirn: Grundlagenforschung in Jülich WDR 5 Das Wirtschaftsmagazin - aktuell 28.05.2024 05:03 Min. Verfügbar bis 28.05.2025 WDR 5

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Neue Forschergeneration

Informatik, Optik, Neurologie – beim europäischen Hirnforschungsprojekt kommen viele Disziplinen zusammen. "Wir sind dabei, eine neue Generation von Studenten auszubilden", sagt Katrin Amunts‘ Kollege Markus Axer, selbst gelernter Physiker.

Manchmal braucht es auch ganz praktisches Knowhow. Zum Beispiel für die Glasplättchen, zwischen denen die Gehirnschnitte fixiert werden. Zum Versiegeln eignet sich am besten: handelsüblicher Nagellack. Dutzende Fläschchen davon stehen in einer Laborschublade. "Mittlerweile kriegen wir auch Spenden von Kollegen hier aus dem Forschungszentrum, meistens zu Weihnachten", freut sich der Laborchef.

Unsere Quellen:

  • WDR-Recherche
  • Interviews mit Mitarbeitenden des Forschungszentrum Jülich

Über dieses Thema berichtet der WDR am 28.05.2024 auch im Hörfunk im WDR 5 Wirtschaftsmagazin.