75 Jahre Grundgesetz: "Wir müssen es verteidigen, wir alle!"
Stand: 23.05.2024, 06:00 Uhr
Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet. 75 Jahre danach spricht der Bürgerrechtler und ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) darüber, wie sehr unsere Demokratie in Gefahr ist und wie wir das Grundgesetz schützen sollten.
Es war der Startschuss für die Bundesrepublik: Am 23. Mai 1949 verkündete der Präsident des Parlamentarischen Rates und spätere Bundeskanzler, Konrad Adenauer (CDU), in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn das Grundgesetz. Gerhart Baum war damals 16 Jahre alt, später wurde der Rechtsanwalt und FDP-Politiker Bundesinnenminister der Bundesrepublik Deutschland (1978 bis 1982).
Heute, 75 Jahre nach Verkündung des Grundgesetzes, ist Gerhart Baum in großer Sorge. "Es ist die schwerste Krise, die ich erlebe", sagt er im WDR-Interview zur Lage, in der Deutschland und die Welt gerade sind. Ein Gespräch über die Bedeutung des Grundgesetzes, darüber, warum es in Gefahr ist - und wie es beschützt werden kann.
WDR: Wir feiern 75 Jahre Grundgesetz - und wir hätten ja gerne noch 75 friedliche weitere. Wie sehr ist das Grundgesetz für Sie gerade in Gefahr?
Gerhart Baum: Also: Wir feiern - das sollten wir auch. Wir haben die beste Verfassung, die die Deutschen je hatten. Sie ist konzentriert auf die Menschenwürde - in unserer Gesellschaft untereinander und in Bezug auf den Staat. Und diese Verfassung müssen wir jetzt verteidigen. Sie ist in Gefahr durch Freiheitsfeinde, auch durch die Gleichgültigen, die sie nicht verteidigen. Feiern und verteidigen muss jetzt zusammengehen.
WDR: Sie haben gerade gesagt: die Gleichgültigen. Was meinen Sie damit?
Baum: Ich habe das Gefühl, dass viele Leute gesagt haben: Es geht einfach so weiter. Eine junge Frau hat mir letztens gesagt: "Wir haben doch gar nicht daran gedacht, dass sich da mal was ändert." Das ändert sich jetzt! Die ganze Welt ändert sich. Die Menschenwürde ist weltweit in Gefahr. Wir sind Bedrohungen ausgesetzt: China, Russland, wir haben Kriege. Wir brauchen eine neue Besonnenheit. Flüchtlinge, Klima, Seuchen, Finanzen: Wir sind miteinander vernetzt.
WDR: Deutschland verändert sich ja auch. Wir haben viele Menschen, die zu uns kommen, für die vielleicht die Gleichberechtigung der Frau, die Freiheit, Meinungsfreiheit nicht selbstverständlich sind, die hier gerne leben, die eingebürgert werden. Was würden Sie bei so einer Einbürgerung vielen mitgeben, dass dieses Grundgesetz auch mehr Strahlkraft hat?
Baum: Ich würde ihnen sagen: Wir werden euch schützen mit dem Grundgesetz. Vor denen, die euch die Menschenwürde absprechen. Der Hauptvorwurf gegen die AfD ist: Sie nimmt diesen Menschen, die sie als "nicht deutsch" definieren, die Menschenwürde - das ist verfassungsfeindlich. Das geht gegen die Grundelemente unseres Zusammenlebens. Also: wir wollen in einer Einwanderungsgesellschaft mit allen gleichberechtigt leben. Und das bedeutet auch, dass wir dafür was tun müssen. Auch die Einwanderer.
Gerhart Baum und Catherine Vogel im Museum Koenig in Bonn
WDR: Was sagen Sie dann dazu, dass aber Leute auf die Straße gehen und für ein Kalifat protestieren?
Baum: Wir haben Gedankenfreiheit in diesem Lande. Sie können verfassungsfeindliche Ziele vertreten, sie können demonstrieren gegen die Verfassung und werden von der Polizei geschützt - wenn sie nicht die Aggressivität entwickeln, etwa durch Volksverhetzung und Antisemitismus. Das dürfen wir nicht aufgeben. Meinungsfreiheit ist eine Kontrolle der Macht. Versammlungsfreiheit ist eine Kontrolle der Macht. Geben wir die Grundprinzipien unserer Verfassung nicht preis, wenn wir sie jetzt verteidigen.
WDR: Viele sagen dann: "Ja, aber irgendwo muss ja Meinungsfreiheit auch aufhören. Das ist ja Hass, das ist Hetze."
Baum: Das ist klar definiert. Aber sie können ein Kalifat fordern und sagen: Das Grundgesetz muss weg. Das alles können sie. Sie dürfen es nur nicht aktiv so vertreten, dass eine Gefahr entsteht oder die Rechte anderer Menschen verletzt werden.
WDR: Ist denn das Grundgesetz noch so fit mit 75, dass es das auch aushält?
Baum: Absolut fit. Alle neuen Situationen werden durch das Verfassungsgericht mit dem Grundgesetz in Einklang gebracht. Es bringt das Grundgesetz zum Sprechen! Ich hatte mir nie vorgestellt, dass wir es jetzt durch Verfassungsänderungen vor Verfassungsfeinden schützen müssen. Soweit sind wir gekommen. Nehmen wir die Gefahren endlich ernst. Engagieren wir uns in der Bürgerschaft, in der Zivilgesellschaft. Jeder auf seine Weise.
WDR: Wie könnten wir denn dafür noch mehr begeistern? Sie haben die Gleichgültigkeit angesprochen.
Baum: Das beginnt ja. Die Zivilgesellschaft ist aufgewacht. Sie geht auf die Straße, sie organisiert sich. Junge und ältere Leute fragen sich: "Wie können wir uns in unserer Gesellschaft engagieren?" Die bequeme Normalität, wo jeder da sitzt und sagt: "Es wird schon so weitergehen. Ich sitze jetzt im Internet." Die ist vorbei. Die Zukunft stellt uns vor Herausforderungen, die wir erkennen müssen und wir müssen die Kräfte aktivieren, die unsere Gesellschaft hat. Nur dann werden wir es schaffen.
Gerhart Baum im Museum Koenig in Bonn
WDR: Wir sehen in ostdeutschen Bundesländern eine Unzufriedenheit, ein Unglücklichsein, einen Protest, der sehr groß ist. Es gibt viele, die sagen, man hätte sie damals beim Grundgesetz mehr mitnehmen müssen, man hätte eine neue deutsche Verfassung schaffen müssen.
Baum: Sie haben abgestimmt in freien Wahlen und wollten diese Verfassung. Und sie wollten sie schnell.
WDR: Das heißt, das sehen Sie nicht als Argument?
Baum: Es gibt viele Gründe. Ich bin Dresdner. Ich habe gerade in Dresden den Friedenspreis an die Witwe Julija Nawalnaja vergeben. Wir kämpfen dort für die Freiheit in einem Land, wo etwa 30 Prozent offenbar bereit sind, eine Partei zu wählen, die die Freiheit abschaffen will. Wir müssen die Protestursachen bekämpfen. Wir müssen anders regieren, zuverlässiger regieren.
WDR: Sie sagen: auf die Leute zugehen und erklären. Gerade Populisten, Rechtsextreme finden ja einfache, gerade Sätze - kurz erklärt. Da hätten Sie auch früher gesagt, als aktiver Politiker: "Ja, so einfach ist das nicht. Es gibt viele Facetten. Man muss viel sagen." Knackig und kurz zu erklären, ist ja vielleicht für den Kanzler manchmal nicht so einfach.
Baum: Man muss sich die Mühe machen, das zu erklären. Und es gibt eine Sehnsucht nach den einfachen Lösungen, nach dem starken Mann oder der starken Frau. Ich bin zornig über solche Leute wie Frau Wagenknecht, die der Ukraine, die ihre und unsere Freiheit verteidigt, Waffen verweigern will. Hat sie denn vergessen, wie wir von dem Verbrecherregime der Nazis befreit wurden? Durch junge Männer, die ihr Leben gelassen haben, durch junge Ukrainer, Kanadier, Amerikaner, Briten. Also, dass man jetzt ein Volk, das seine Freiheit verteidigt, einfach liegen lassen will und sagt: "Waffenstillstand." Wie denn mit einem Verbrecher?
WDR: Wenn Sie von der Bedrohung von außen sprechen, auch für uns, was genau meinen Sie da?
Baum: Dass starke Kräfte in der Welt auf dem Weg sind, die freien Gesellschaftsordnungen in die Defensive zu bringen, autoritäre Strukturen aufzubauen, das Prinzip der Menschenwürde aus dem Völkerrecht zu beseitigen, Angriffskriege zu führen. Stellen Sie sich vor: Herr Orbán ist jetzt der Stützpunkt eines Diktators in Europa und übernimmt in Kürze die Präsidentschaft der Europäischen Union. Und was machen wir eigentlich, wenn Trump kommt?
Wir sind Weltbürger. Zum ersten Mal in der Geschichte des Völkerrechts ist 1948 gesagt worden: "Wir verbinden die Friedenssehnsucht mit der Menschenwürde." Was nützt der Frieden, wenn er in der Ukraine eine Gewaltherrschaft à la Putin errichtet wird? Menschenwürde muss gesichert werden.
WDR: Sie haben so viele Krisen, so viele Kriege erlebt in Ihrem Leben. Wenn Sie das jetzt sehen, ist das eher, dass Sie müde darüber lächeln und sagen: "Das kriegen wir gut in den Griff, das dauert ein paar Jahre" oder macht Ihnen das richtig Sorgen?
Baum: Es ist die schwerste Krise, die ich erlebe. Aber ich ende nicht in Verzweiflung. Wir haben die Kraft. Diese der Demokratie und die Demokratien überhaupt haben die Kraft, damit fertigzuwerden - wenn sie das nur aktiv machen.
Das Interview führte Catherine Vogel für die Aktuelle Stunde im WDR Fernsehen. Die Online-Fassung wurde gekürzt und zwecks besserer Lesbarkeit geändert.
Transparenzhinweis: Gerhart Baum ist stellvertretendes Mitglied des WDR-Rundfunkrats, dem Aufsichtsgremium der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten.