Gäbe es eine Nato ohne die USA?

Aktuelle Stunde 20.02.2024 UT Verfügbar bis 20.02.2026 WDR Von Cosima Gill

Nato-Generalsekretär Stoltenberg: "USA bleiben nach Wahlen verlässlicher Verbündeter"

Stand: 20.02.2024, 18:47 Uhr

Wie steht es um die Nato, wenn Trump die US-Wahl gewinnen sollte? Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg gibt sich im WDR-Interview zuversichtlich. Auch dann blieben die USA ein verlässlicher Verbündeter.

Vor einem europäischen "Pearl Harbor-Moment" für die Nato warnt der litauische Außenminister. Also einem vernichtenden Überraschungs-Angriff Putins, sollten sich die USA aus Europa zurückziehen. Werden die USA unter einem möglichen Präsidenten Trump Europa den militärischen Schutz entziehen? Kann die Nato Putin noch abschrecken? Fragen an den Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.

WDR: Der ukrainische Präsident Selenskyj wird im Moment jeden Tag deutlicher. Der sagt jetzt, die Lage an der Front bei ihm ist extrem schwierig, weil Hilfen aus den USA ausbleiben. Kann Europa diese Lücke im Zweifel schließen?

Stoltenberg: Es ist wichtig, dass die europäischen Verbündeten sich stärker engagieren und sich stark engagieren. Aber sie können die Lücke natürlich nicht völlig schließen. Wir sind von den USA abhängig, und ich erwarte, dass die USA schnell eine Entscheidung treffen. Ich habe zahlreiche Kongressabgeordnete in München getroffen, aber auch in Washington, als ich kürzlich in Washington war, und sie alle haben mir versichert, dass es eine breite Sicherheit im Kongress gibt für die fortsetzende Hilfe für die Ukraine. Ich denke, das wird sich so bald wie möglich auch in den Entscheidungen zeigen. Die europäischen Verteidigungsfähigkeiten sind natürlich wichtig, und ich danke Deutschland für die neuen Ankündigungen letzte Woche für zusätzliche Unterstützung. Es gibt auch weitere Zusagen von Frankreich, Schweden, Kanada. Diese Verbündeten haben neue Ankündigungen getroffen, und das wird etwas bewirken.

"Keine eminente Bedrohung auf Nato-Verbündete"

WDR: Sie sprechen die europäische Verteidigungsfähigkeit an. Heute reden wir über die Ukraine, morgen vielleicht über ein Nato-Land. Viele interpretieren gerade den Tod des Kreml-Kritikers Nawalny als so ein Zeichen Putins, dass er im Grunde zu allem bereit ist, dass er alle Brücken abreist. Für wie groß halten Sie die Gefahr, dass auch Nato-Territorium angegriffen werden könnte? Sie üben das ja gerade in einem großen Manöver.

Stoltenberg: Wir können den Frieden niemals für eine Selbstverständlichkeit halten. Wir müssen immer vorbereitet sein, aber wir sehen keine eminente Bedrohung, keine unmittelbare Bedrohung eines militärischen Angriffs auf einen Nato-Verbündeten. Aber das liegt daran, dass die Nato stark ist, dass die Nato präsent ist. Das wichtigste Ziel der Nato, die Kernaufgabe der Nato ist es ja, den Krieg zu verhindern und den Frieden zu bewahren durch eine sehr klare Botschaft an jeden potenziellen Aggressor: Dass ein Angriff auf ein Mitglied ein Angriff auf alle sei - 'einer für alle, alle für einen'. So hat die Nato über 75 Jahre lang den Frieden bewahren können. Und solange wir sicherstellen, dass es keinen Spielraum gibt für Fehlinterpretation seitens Moskaus, dann wird es keinen militärischen Angriff auf einen Nato-Verbündeten geben. Also nochmal: Deutschland hat eine Kampfgruppe in Litauen, hat die Verteidigungsausgaben hochgefahren, Deutschland trägt bei zu dieser Abschreckungsfähigkeit. Und so kann man den Frieden sichern.

Nato bleibt das Kernstück der europäischen Sicherheit

WDR: Sie sagen gerade 'alle für einen'. Genau das stellt jetzt Donald Trump, möglicher zukünftiger US-Präsident, in Frage. Das Herzstück - Sie sagen es - der Nato. Die gegenseitige Beistandsverpflichtung. Kann sich Europa ohne die USA wirklich verteidigen? Im Moment sagen ja hier viele, wir müssen mehr Verantwortung übernehmen.

Stoltenberg: Ich begrüße stärkere europäische Anstrengungen im Verteidigungsbereich. Dazu hat die Nato seit Jahren aufgerufen: höhere Verteidigungsausgaben, höhere Rüstungsproduktion, um die Fragmentierung der europäischen Verteidigungsindustrie zu überwinden. Das ist sehr gut, das begrüßen wir. Und das hat die Nato seit Jahren gefordert. Gleichzeitig aber sind die europäischen Verteidigungsanstrengungen kein Wettbewerb mit der Nato. Die Nato bleibt das Kernstück der europäischen Sicherheit. 80 Prozent der Nato-Ausgaben kommen von Nicht-EU-Mitgliedern in Europa und drei der Nicht-EU-Verbündeten sind ja G7-Mitglieder, die USA, Kanada und das Vereinigte Königreich. Und zwei von denen sind Nuklearmächte. Also natürlich ist all das wichtig für unsere Sicherheit. Auch die Geografie ist wichtig, die Türkei ist wichtig für die Südflanke im Norden. Norwegen und Island sind sehr wichtig für die kritischen Verbindungen über den Nordatlantik und im Westen, Kanada und die USA und das Vereinigte Königreich. Die sind wichtig für die Verteilung Europas. Also wir begrüßen stärkere EU-Anstrengungen zur Verteidigung. Aber die EU-Anstrengung sind keine Konkurrenz zur Nato. Die Nato bleibt der Kern der Sicherheit.

Nichts tun, um Glaubwürdigkeit der Abschreckung zu untergraben

WDR: Diese Anstrengungen gehen mittlerweile so weit, dass sogar über ein europäisches nukleares Schutzschild diskutiert wird. Für wie sinnvoll halten Sie solche Debatten?

Stoltenberg: Wir haben eine funktionierende, nukleare Abschreckung durch die Nato. Das hat jahrzehntelang gut funktioniert. Wir haben europäische Verbündete, die mit den USA zusammenarbeiten. Die USA haben Nuklearwaffen in Europa stationiert, die europäischen Verbündeten stellen aber die Flugzeuge zur Verfügung, die Infrastruktur, den Schutz dieser Waffen. Alles, was wir brauchen, um diese Abschreckung funktionsfähig zu machen. Das tun wir gemeinsam mit gemeinsamer Truppenführung und Verfahren. Und das ist die ultimative Abschreckung. Nichts darf getan werden, um die Glaubwürdigkeit dieser Abschreckung zu untergraben. Denn die Abschreckung findet ja im Kopf unserer Gegner statt. Und solange wir stark kommunizieren, dass wir daran glauben, wird es keinen Angriff geben. Der Zweck der Nato ist ja nicht, einen Krieg zu führen, sondern den Krieg zu verhindern. Und da geht es um glaubwürdige Abschreckung. Und die ultimative Abschreckung ist die nukleare Abschreckung. Also, es ist nicht sehr hilfreich, diese Glaubwürdigkeit zu untergraben. Das würde wirklich die Gefahren erhöhen für Missverständnisse und Fehlkalkulationen in Moskau. Und das würde die Gefahr eines Konflikts heraufbeschwören.

Berechtigte US-Kritik an geringen EU-Verteidigungsausgaben

WDR: Ihre Einschätzung ist klar geworden. Dennoch die Frage: Wenn sich nach den Wahlen in den USA, an all dem, was Sie gerade beschrieben haben, etwas ändert, was machen wir denn dann?

Stoltenberg: Zunächst einmal haben wir erlebt, dass die USA seit 75 Jahren ein starker Verbündeter waren - und zwar unabhängig von den Präsidenten und politischen Parteien, die an der Macht waren in Washington, inklusive der vier Jahre mit Präsident Trump. Die amerikanische Militärpräsenz in Europa ist unter Trump sogar noch gewachsen. Ich glaube, dass auch nach den US-Wahlen in diesem Jahr die USA ein starker und verlässlicher Nato-Verbündeter bleiben werden. Denn es ist ja im Sicherheitsinteresse der USA selbst, eine starke Nato zu haben. In der Nato haben sie etwas, das keine andere Weltmacht hat: über 30 Freunde und Verbündete. Das macht die USA selber stärker und sicherer.  

Ferner gibt es eine starke Unterstützung für die Nato in beiden Parteien in den USA. Und drittens - da müssen wir sehr stark aufpassen: Die Kritik in den USA richtet sich ja nicht primär gegen die Nato als solche, sondern gegen Verbündete, die nicht genug Geld für Verteidigung ausgeben. Und das ist eine berechtigte Kritik. Die europäischen Verbündeten haben ziemlich wenig für Verteidigung ausgegeben. Das hat sich aber verändert. Deutschland gibt jetzt zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. 18 Verbündete erreichen das Zwei-Prozent-Ziel - verglichen mit drei nur, als das Zwei-Prozent-Ziel 2014 beschlossen wurde. Die europäischen Verbündeten und Kanada fahren ihre Anstrengungen bereits hoch. Und das ist ein wichtiger Beitrag zur Lastenteilung und zur Glaubwürdigkeit des Bündnisses mit den europäischen Verbündeten, die auch ihren Teil übernehmen.

WDR: Also, die Nato ist die Struktur auf die wir setzen müssen, und die USA wird dabeibleiben. Das sagt der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Martin von Mauschwitz. Es wird am 20.2.2024 im WDR-Fernsehen in der "Aktuellen Stunde" um 18.45 Uhr ausgestrahlt.

Weitere Themen