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Verschwörungstheorien: Was 9/11 und die Corona-Pandemie gemeinsam haben

Stand: 11.09.2023, 12:51 Uhr

Manche Menschen halten die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA für eine Verschwörung - ähnlich wie die Corona-Pandemie. Woher kommt die Neigung zu "alternativen Fakten"?

Wo waren Sie vor 22 Jahren? Viele Menschen können diese Frage sofort beantworten. Die Anschläge am 11. September 2001 waren ein einschneidendes Ereignis, das die ganze Welt bewegt hat. Doch nicht alle sind sich einig, was an diesem Tag passiert ist und warum. Neben der "offiziellen Version" gibt es verschiedene Verschwörungstheorien, die bis heute kursieren.

Michael Butter ist Amerikanist und Professor an der Universität Tübingen. Er beschäftigt sich schon seit Jahren mit Verschwörungstheorien und der amerikanischen Kultur nach 9/11.

WDR: Die Anschläge vom 11. September wurden von zahlreichen Verschwörungstheorien begleitet, die auch und vor allem im Internet kursierten. War 9/11 die Geburtsstunde der modernen Verschwörungserzählung?

Michael Butter: Die Theorien zum 11. September waren tatsächlich die ersten, die sich primär über das Internet verbreitet haben. Allerdings geschah das in der westlichen Welt mit ein paar Jahren Verzögerung. Populär und sichtbar wurden diese erst ab 2003, als die US-Truppen im Irak einmarschiert sind und klar wurde, dass es dort keine Massenvernichtungswaffen gab. Die Bush-Regierung hatte offensichtlich gelogen, und da die Ereignisse am 11. September immer als Ursache für die Invasion benannt wurden, begannen die Leute sich kritischer damit auseinanderzusetzen.

Ab Mitte der 2000er-Jahre wurde Youtube immer bedeutsamer, und dort gab es dann sehr viele Pseudo-Dokumentationen zum Thema: gut gemacht, schnell erzählt und geschnitten, mit fetziger Musik. Ein Beispiel wäre der Film "Loose Change", der vom "Vanity Fair"-Magazin als "erster Internet-Blockbuster" bezeichnet wurde.

Prof. Michael Butter, Universität Tübingen

Experte Butter: "Muster von Verschwörungstheorien ist immer gleich"

WDR: Auch während der Corona-Pandemie kursierten viele Verschwörungstheorien. Wo sind die Gemeinsamkeiten zu 9/11?

Butter: Verschwörungstheorien haben sich im Laufe der Zeit kaum verändert. Es gab und gibt absurde und harmlose Theorien, und es gab und gibt problematische Theorien. Das Muster dabei ist immer gleich: Man geht davon aus, dass es eine kleine Gruppe gibt, die die Dinge im Geheimen orchestriert. Das verbindet die Theorien zu 9/11 und zu Corona.

WDR: Und wieso finden diese derartigen Zulauf?

Butter: Der Grund, wieso Menschen an diese Theorien glauben, ist derselbe, wieso andere Menschen nicht an sie glauben: Es bestätigt ihr Weltbild. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Menschen an eine Verschwörungstheorie geraten und dadurch ihr Weltbild verändert wird. Oft ist dort schon ein gewisse Einstellung von wegen "Die belügen uns, das stimmt alles nicht so richtig" vorhanden. Und das sieht man dann bestätigt durch Ereignisse wie 9/11 oder die Pandemie.

WDR: Kann man Verschwörungsgläubige über einen Kamm scheren? Zweifeln alle, die 9/11 für eine Verschwörung halten, auch an der Gefährlichkeit des Corona-Virus?

Butter: Es gibt natürlich Menschen, bei denen gehen die Theorien ineinander über. Was auf uns wie verschiedene Narrative wirkt, ist für die dann ein großes Komplott. Es kommt zu Super-Verschwörungstheorien, in denen die verschiedensten Ereignisse und Akteure zusammenkommen, die Weltgeschichte vorantreiben, und das geht dann zurück bis zu den Illuminaten. Auf der anderen Seite gibt es aber auch solche, die 9/11 als Verschwörung sehen, aber die Corona-Pandemie sehr ernst genommen haben.

WDR: Verschwörungstheorien, wie die um die inszenierte Mondlandung oder die flache Erde, werden oft als skurril, aber harmlos betrachtet. Mit 9/11 wurden diese Theorien ernster, bösartiger und auch gefährlicher. Eine These, der Sie zustimmen?

Butter: Es stimmt zwar, dass Verschwörungstheorien in der deutschen Öffentlichkeit lange ein skurriles Thema waren. Das ändert sich aber nicht mit 9/11, sondern erst in den 2010er Jahren mit den Theorien über Barack Obama, den Brexit und Donald Trump. Seitdem werden diese anders wahr- und ernstgenommen.

Anderson und Duchovny in "Akte X"

"Akte X": Verschwörungstheorien als TV-Unterhaltung

Vorher wurden Verschwörungstheorien und deren Komik und Absurdität oft benutzt, um Klicks zu erzeugen, und das auch in durchaus seriösen Medien. Zudem waren diese eine Form der Unterhaltung. Denken Sie etwa an eine Serie wie "Akte X", die damals sehr populär war. Eine inhaltliche Auseinandersetzung gab es hier lange Zeit nicht, und dass diese Theorien gefährlich sein können, war vielen Menschen nicht klar. Auch den Medien nicht. So wurden noch Anfang der 2010er Jahre Verschwörungstheoretiker wie Daniele Ganser oder Andreas von Bülow von 3Sat eingeladen, um über den 11. September zu diskutieren.

WDR: Bei Verschwörungstheorien stößt man oft auf Freizeit-Experten: Während der Pandemie traf man auf einmal auf ganz viele Leute, die scheinbar Ahnung von Virologie hatten, im Nachgang zu 9/11 gab es viele vermeintliche Statiker. Hat der Trend zu "alternativen Fakten" und zur Wissenschaftsfeindlichkeit zugenommen?

Butter: Das hat sicher durch den Einfluss des Internets zugenommen, dass die Leute sagen: Ich bilde mir lieber meine eigene Meinung, ich bin mein eigener Experte. Wenn man das Ganze aber historisch betrachtet, muss man klar sagen: Verschwörungstheorien waren in den vergangenen Jahrhunderten bis in die 1950er Jahre viel verbreiteter und populärer als heute. Damals standen diese aber nicht unbedingt im Kontrast zur etablierten Wissenschaft.

Im Gegenteil: Die klügsten Köpfe ihrer Zeit haben bis ins 20. Jahrhundert hinein an Verschwörungstheorien geglaubt. Und auch heute noch sind die Verschwörungstheorien gerade in Deutschland nicht per se wissenschaftsfeindlich. Diese Menschen begreifen sich durchaus als Wissenschaftler - nur eben als die besseren.

WDR: Auch 22 Jahre nach dem Anschlägen hallt das Thema 9/11 bei Verschwörungsgläubigen nach. Liegt das auch daran, dass so vieles ungeklärt bleibt? Bis heute hat man von über 1.000 Opfern keine Spur gefunden.

Butter: Ich glaube eher, dass das an der unfassbaren Visualität der Bilder liegt. Wir haben alle zugeschaut, und auch die Jüngeren können sich heute noch diese Bilder überall ansehen. Dazu kommt, dass 9/11 Konsequenzen hatte, die wir bis heute spüren.

Die Entwicklungen der 90er-Jahre wurden so beschleunigt, dass sich die Weltordnung verschoben hat. Und gerade bei jungen Menschen sind diese 9/11-Theorien eine Möglichkeit, eine Unzufriedenheit mit der Politik der USA zu artikulieren. Dieser Anti-Amerikanismus strahlt in Deutschland sehr weit in die Mitte der Gesellschaft.

Das Interview führte Ingo Neumayer.

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