Schwere Ausschreitungen 1992 in Rostock-Lichtenhagen

30 Jahre Rostock-Lichtenhagen - wie steht es um die Aufarbeitung?

Stand: 22.08.2022, 18:45 Uhr

Vor 30 Jahren kam es in Rostock-Lichtenhagen tagelang zu rassistischen und fremdenfeindlichen Ausschreitungen. Vernünftig aufgearbeitet wurden die Pogrome bis heute nicht.

Von Frank Menke

Die Bilder gingen um die Welt und zeigten das hässlichste Gesicht Deutschlands. Am 22. August 1992 zog ein Mob aus Randalierern und Rechtsextremen im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen vor eine zentrale Aufnahmestelle für Asylsuchende, skandierte Parolen wie "Jetzt geht's los" und "Deutschland den Deutschen".

Das sogenannte Sonnenblumenhaus

Das sogenannte Sonnenblumenhaus

Mit Brandbomben und unter dem Applaus tausender Schaulustiger griffen sie auch das sogenannte Sonnenblumenhaus an, in dem etwa 120 Menschen aus Vietnam lebten, Vertragsarbeiter der ehemaligen DDR. Vier Tage dauerten die Pogrome, und es war reines Glück, das angesichts der Gewalteskalation und des polizeilichen Versagens kein Mensch dabei starb.

"Ich werde nie vergessen, wie ich mit meiner Mutter und meiner Schwester heulend im Wohnzimmer saß während der Anschläge." Rapper Marteria wohnte während der Pogrome in Rostock-Lichtenhagen
Der Rapper Marteria

Rapper Marteria

Der ungebremste Ausländerhass, der sich damals Bahn brach, wirkt bis heute nach - emotional wie politisch. Der Rapper Marteria, der in Lichtenhagen aufwuchs, erlebte die Ausschreitungen als Neunjähriger hautnah mit.

Er erinnerte sich in einem 1LIVE-Interview so daran: "Das war Luftlinie 400 Meter von unserer Wohnung weg. Ich werde nie vergessen, wie ich mit meiner Mutter und meiner Schwester heulend im Wohnzimmer saß während der Anschläge. Es gab nicht nur Leute, die auf dieser Brücke damals standen und geklatscht haben. Wir dachten, die Welt geht unter."

"Es war eine gruselige Stimmung. Genauso, wie ich Pogrome aus der Geschichte gekannt habe, habe ich es dort erlebt." Wolfgang Richter, damals Ausländerbeauftragter der Stadt Rostock
Wolfgang Richter (r.), Rostocks Ex-Ausländerbeauftragter, mit einem Nebenkläger

Wolfgang Richter (r.) mit einem Nebenkläger

Noch näher dran als Marteria war Wolfgang Richter, damals Ausländerbeauftragter der Stadt Rostock. Er hielt sich selber im Sonnenblumenhaus auf, als die Angriffe begannen: "Es war eine gruselige Stimmung. Genauso, wie ich Pogrome aus der Geschichte gekannt habe, habe ich es dort erlebt", sagte er dem WDR.

Von der Polizei im Stich gelassen

Richter beklagte auch das Verhalten der Polizei: "Am zweiten Tag kamen aus ganz Deutschland Rechtsextremisten dazu, die sich in diese Angriffe hineinbegaben und einmischten. Die Auseinandersetzungen waren viel schlimmer noch, dann flogen zwei Hamburger Hundertschaften mit Hubschraubern ein. Als die da waren, dachten wir, jetzt hat die Polizei es endlich im Griff."

Er sollte sich irren: "Gegen 21 Uhr sahen wir, dass überhaupt keine Polizei um das Wohnheim herum war. Wir konnten uns das nicht erklären. Es blieb für uns nur festzustellen, dass wir ohne jeglichen Polizeischutz waren."

Enttäuschung über Aufarbeitung

Als "extrem enttäuschend" empfindet Richter die unmittelbare Aufarbeitung der Gewaltexzesse. Der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, Lothar Kupfer, sei im Februar 1993 zurückgetreten, um Schaden von seiner Partei CDU abzuwenden - nicht, weil er Verantwortung übernommen habe.

Und der Rostocker Oberbürgermeister Klaus Kilimann (SPD) sei "nach einem reichlichen Jahr zurückgetreten mit großer Empörung, dass der Untersuchungsausschuss ihm eine moralische Verantwortung, wenn auch keine juristische, unterstellt hatte. Und bei der Polizei gab es auch keine entsprechenden Konsequenzen."

Stiftung: Verharmlosung rechtsextremer Gewalt

Der Geschäftsführer der Amadeu-Antonio-Stiftung, Timo Reinfrank, forderte zum Jahrestag eine gründliche Aufarbeitung der Ausschreitungen. Auch er meinte, Politik und Polizei hätten damals massiv versagt. Mit dem Pogrom verbunden sei eine jahrzehntelange Verharmlosung rechtsextremer Gewalt.

In einer gemeinsamen Erklärung mit der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl warnte die Stiftung davor, Rassismus als Problem der Vergangenheit zu betrachten. Noch immer seien Geflüchtetenunterkünfte eine Zielscheibe für Gewalt. Noch immer fehle zudem der politische Wille, "konsequent gegen rassistische Gewalt vorzugehen".

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan (SPD), verwies darauf, dass die damaligen politischen Reaktionen aus heutiger Sicht nur als erschreckend zu bezeichnen seien. So habe die damalige Bundesregierung das Asylrecht verschärft statt über Rechtsextremismus zu sprechen: "Das haben wir auch immer noch nicht richtig aufgearbeitet."