Ein Mann sitzt am Laptop und hält ein Smartphone mit in der Hand.

Immer mehr Digitalisierung im Alltag: Deswegen fühlen sich Menschen abgehängt

Stand: 21.05.2024, 15:45 Uhr

Der Zwang, digitale Produkte im Alltag zu nutzen, nimmt zu - sagt der Bielefelder Verein Digitalcourage. Eine Grundgesetzänderung soll helfen. Darum geht es.

Ohne App keine Bahn-Card, ohne Online-Account kein Arzttermin, ohne E-Mail-Adresse keine Supermarktangebote? In vielen Lebensbereichen breitet sich die Digitalisierung aus. Aber was die einen als Erleichterung schätzen, bedeutet für andere Probleme. Der Verband Digitalcourage aus Bielefeld will deshalb ein "Recht auf Leben ohne Digitalzwang" im Grundgesetz verankern.

Was ist "Digitalzwang"?

Ein "Digitalzwang" besteht nach Auffassung von Digitalcourage dann, wenn Menschen dazu gezwungen werden, ein digitales Produkt zu nutzen - obwohl es durchaus analoge oder datenschutzfreundliche Alternative geben könnte.

"Oft mit der Folge, dass Menschen benachteiligt sind, die kein Smartphone oder keinen Internetanschluss haben", sagte Julia Witte von Digitalcourage am Dienstag dem WDR. Betroffen von diesem Zwang seien auch Menschen, die zwar digital unterwegs seien, aber ihre Daten nur dosiert weitergeben möchten.

Digitalzwang: "Teil der Bevölkerung wird ausgeschlossen"

WDR 5 Morgenecho - Interview 21.05.2024 07:16 Min. Verfügbar bis 21.05.2025 WDR 5


Download

Welche Beispiele gibt es dafür?

Bahnfahren: Als präsentestes Beispiel ist die Abschaffung der analogen Bahn-Card. Ab Juni gibt es die digitale Rabatt-Karte nur noch für Menschen, die ein Kundenkonto bei der Deutschen Bahn haben. Ein solches Abonnement ohne eigenes Smartphone ist mit erheblichem Mehraufwand verbunden - und das, obwohl mehr als neun Millionen Menschen in Deutschland kein Smartphone besitzen.

Auf dem Bild ist die Bahncard 25 zu sehen.

Aus für die Bahn-Card aus Plastik

Marion Jungbluth von der Verbraucherzentrale Bundesverband kritisierte das im WDR5-"Morgenecho" scharf: "Bahnfahren muss für alle möglich sein. Es kann nicht sein, dass dort Teile der Bevölkerung aufgrund der Digitalisierungsstrategie ausgeschlossen werden."

Bereits Mitte Mai schrieben Sozialverbände und Gewerkschaften einen offenen Brief an die Deutsche Bahn: "Es darf nicht sein, dass Menschen, nur weil sie kein Internet nutzen, benachteiligt und von Mobilitätsangeboten ausgeschlossen werden."

Angebotsprospekte: Bereits in den letzten Jahren haben große Unternehmen wie Otto-Versand, Obi und Ikea den Druck ihrer Prospekte für Angebote eingestellt. Die Supermarkt-Kette Rewe hat im vergangenen Sommer nachgezogen. Der digitale Prospekt ist günstiger für Rewe und umweltfreundlicher. Für viele Kunden bedeutet er aber eine große Umstellung.

Mehr als Dreiviertel der Menschen in Deutschland geben an, regelmäßig gedruckte Prospekte zu lesen. Für einige von ihnen sind die digitalen Alternativen kaum oder gar nicht nutzbar.

Packstationen der DHL: Die mehr als 10.000 Abgabe-Orte für Pakete werden derzeit nach und nach auf App-gesteuerte Stationen umgestellt. Abholung und Versand sind dann nur noch mit dem Smartphone möglich.

Packstation

Bald nur noch mit Smartphone?

Diesen Service kann man ablehnen und seine Pakete zur nächsten Post-Filiale liefern lassen. Wenn davon aber immer mehr geschlossen werden, könnte die Abholung von Paketen für viele Menschen unzumutbar werden.

Medizinische Versorgung: Arztpraxen regeln ihre Terminvergabe zunehmend digital - manche sogar ausschließlich. Mit privaten Online-Dienstleistern wie Doctolib.

Der Verbraucherschutz warnt, dass dadurch nicht nur Menschen ohne Internetzugang ausgeschlossen werden, sondern auch Menschen, die sich aus Datenschutz-Gründen nicht online registrieren wollen. Der Service hat in Deutschland einen Marktanteil von 60 Prozent und wächst weiter.

Was fordert Digitalcourage genau?

Zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes startet der Verein am Donnerstag eine Unterschriftenaktion, die sich an den Bundestag richtet. Digitalcourage möchte, dass Artikel 3 des Grundgesetzes erweitert wird. Darin geht es um Gleichberechtigung und das Verbot von Diskriminierung.

"Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die Nutzung der öffentlichen Infrastruktur - zum Beispiel Post, Bahn und medizinische Versorgung - darf nicht davon abhängig gemacht werden, dass Menschen das Internet, ein Smartphone oder bestimmte Software nutzen müssen", sagte Pressesprecherin Witte dem WDR.

Was sagt die Digitalwirtschaft dazu?

Es sei zwar besonders wichtig, die digitale Teilhabe aller Menschen zu stärken, sagte Sophie Vogt-Hohenlinde vom Branchenverband Bitkom am Dienstag dem WDR. "Dabei kann und soll es aber nicht um einen Zwang zur Nutzung digitaler Technologien gehen, sondern um die Wahlfreiheit zwischen digitalen und analogen Wegen."

Es sei allerdings auch die Frage, welche "teueren Doppelstrukturen" bestehen bleiben sollten. Zumal es in Deutschland ein großes Interesse an der digitalen Teilhabe gebe: "Drei von fünf Menschen in Deutschland (60 Prozent) wollen mehr am digitalen Leben teilhaben. Bei Älteren ab 75 Jahren ist der Wunsch besonders groß (67 Prozent)."

Aus Bitkom-Sicht müsse daher die digitale Teilhabe gestärkt und gefördert werden. "Wie wir aus unseren Umfragen wissen, scheitert digitale Teilhabe vor allem an Unsicherheit, mangelndem Wissen und fehlendem Zugang", so Sophie Vogt-Hohenlinde.

Unsere Quellen:

  • WDR5-"Morgenecho"
  • Digitalcourage e.V.
  • Verbraucherzentrale Bundesverband
  • Offener Brief von Sozialverbänden und Gewerkschaften
  • Bitkom e.V.