Ein ICE-Zug hält Einfahrt in den Kölner Hauptbahnhof

Stockende Digitalisierung bei der Bahn: So sind Fahrgäste betroffen

Stand: 06.09.2024, 16:24 Uhr

Um zuverlässiger zu werden, ist bei der Bahn seit Jahren von der Digitalisierung die Rede. Aber unternimmt der Konzern auch genug?

Von Ingo NeumayerIngo Neumayer

Verspätungen und Zugausfälle, geänderte Gleise und umgekehrte Wagenreihungen: Wer öfter mit der Bahn fährt, kennt diese "Störungen im Betriebsablauf" zu Genüge. So kam 2023 nahezu jeder dritte Bahn-Reisende zu spät an seinem Ziel an.

Als Grund wird unter anderem ein veraltetes Schienennetz und System genannt, das teilweise noch mit mechanischer Technik wie im Kaiserreich betrieben wird: Während viele Nachbarländer wie Dänemark, Belgien oder die Niederlande mechanische Stellwerke schon lange ersetzt haben, gab es in Deutschland im Jahr 2023 immer noch 565 mechanische Stellwerke, in denen Weichen und Signale von Hand umgestellt werden.

Wie werden marode Stellwerke modernisiert?

Um diese Probleme zu beheben, hat die Deutsche Bahn schon vor Jahren beschlossen, ihre Netze zu digitalisieren. Jetzt berichtet jedoch der SWR unter Berufung auf interne Pläne der DB-Tochter Infrago, dass alte und marode Stellwerke doch nicht durch neue digitale ersetzt werden sollen, sondern durch herkömmliche elektronische Technik.

Der Ausbau des neuen europäischen Zugsicherungssystems, des European Train Control System (ETCS), solle stark reduziert werden. Beides ermöglicht mehr Zugverkehr und soll die Pünktlichkeit bei der Bahn verbessern - etwa auf der Strecke zwischen Köln und dem Rhein-Main-Gebiet, die den Planungen zufolge bis 2030 modernisiert werden soll.
 

Bahn dementiert - und bleibt trotzdem vage

Ob es dazu immer noch kommt? Die Deutsche Bahn hat die Darstellung des SWR am Freitagmorgen zurückgewiesen. Der Bericht "ist falsch", teilte der Konzern mit. "Richtig ist: Die Deutsche Bahn hält an der Digitalisierung von Bahnstrecken fest."

Mit der Digitalisierung des Bahnknotens Stuttgart laufe derzeit das größte Digitalisierungsprojekt der Schiene in Europa, betonte die Deutsche Bahn (DB). "Auch am aktuellen Vergabeverfahren für die serienmäßige Ausrüstung digitaler Stellwerke lässt sich erkennen, dass die DB die Digitalisierung vorantreibt." Wo, wie genau und in welchem Tempo die Digitalisierung der Bahn in Angriff genommen wird, bleibt allerdings in weiten Teilen unklar.

Erst am Mittwoch hatte Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) den Druck auf die Bahn erhöht, die als Aktiengesellschaft zu 100 Prozent dem Bund gehört. Die Bahn müsse jetzt liefern, er wolle eine Verbesserung sehen bis 2027, heißt es in Wissings in Forderungskatalog an den Bahn-Vorstand. Einer der zentralen Punkte hierbei lautete: "Digitalisierung vorantreiben".

Digitalisierung würde dichtere Bahntaktung erlauben

Einer der Punkte, bei denen die Digitalisierung der Bahn hilfreich wäre, betrifft die Abstände zwischen den Zügen. "Bei entsprechender digitaler Ausrüstung können Züge dichter hintereinander fahren, weil man nicht mehr auf Signalabstände angewiesen ist", sagte der WDR-Bahnexperte Niklas Hoth.

Im aktuellen System sieht es vereinfacht so aus: Die Bahnstrecken sind durch Signale unterteilt, und aus Sicherheitsgründen darf sich zwischen zwei Signalen in der Regel nur ein Zug befinden. Ein dicht folgender Zug muss also am Signal abbremsen und wieder anfahren. Das führt laut Bahn zu mehr Energieverbrauch und Verschleiß und sorgt für längere Fahrzeiten und mehr Verspätungen.

Köln baut neues Stellwerk - mit Technik aus den 90ern

Mann sitzt in Stellwerk Mülheim-Styrum

Elektrisches Stellwerk der Bahn

Es gibt aktuelle Beispiele dafür, dass die Bahn bei der Modernisierung nicht auf Digitalisierung setzt. So etwa am Kölner Hauptbahnhof. Dort, wo es jetzt schon täglich 1.300 Zugfahrten gibt, wird gerade ein neues elektronisches Stellwerk gebaut - mit Technik, wie sie seit den 1990er Jahren benutzt wird.

Die Idee, europaweit die Zugsysteme anzugleichen, gibt es schon lange. Das ETCS-System wurde bereits in den 1990er Jahren auf den Weg gebracht und nach und nach spezifiziert. Im Gegensatz zu Deutschland hätten sich andere Länder schon viel früher auf den ETCS-Standard eingelassen, sagt Markus Hecht, der bei der TU Berlin das Fachgebiet Schienenfahrzeuge leitet.

Im Vergleich mit vielen anderen europäischen Ländern sind wir in Deutschland gewaltig im Hintertreffen, was die Digitalisierung der Bahn angeht. Markus Hecht, Fachgebietsleiter Schienenfahrzeuge TU Berlin

"Nicht jeder Mitarbeiter kann jedes Stellwerk bedienen"

Ein Mann sitzt im Gebäude der DB Netz AG in Duisburg

Mechanisch, elektrisch, digital: Die Stellwerksysteme in Deutschland

Das habe laut Hecht auch Auswirkungen auf die Personalsituation - und letztlich auch auf die Pünktlichkeit: "Wir haben in Deutschland an die zehn verschiedene Stellwerksysteme, und nicht jeder Mitarbeiter kann jedes Stellwerk bedienen. Wenn also jemand ausfällt, kann nicht einfach ein anderer einspringen, weil ihm die entsprechende Qualifikation fehlt." Weil man sich schon lange am ETCS-Standard ausgerichtet habe, hätten Länder wie Norwegen oder Dänemark ein einheitliches System bei den Stellwerken und könnten entsprechend effizienter Personal einsetzen.

Ob die Bahn nun endlich Ernst macht mit der Digitalisierung oder es sich lediglich um Lippenbekenntnisse und ein paar ausgewählte Vorzeigeprojekte handelt, ist aktuell schwer zu sagen. Und auch der Schluss "mehr Digitalisierung = mehr Pünktlichkeit" trifft nicht automatisch zu, glaubt Hecht.

Man müsse es schon richtig machen, so der Experte. "Die Eisenbahn ist ein komplexes Gebilde. Man kann viel Geld reinstecken und wenig erreichen. Oder wenig Geld reinstecken und viel erreichen."

Internen Bahndokumenten zufolge, über die Reuters am Freitagmittag berichtete, hat man dort ehrgeizige Ziele. Bis 2027 will man einen Betriebsgewinn von zwei Milliarden Euro ausweisen. In drei Jahren sollen zudem 75 bis 80 Prozent der IC und ICE wieder pünktlich ihr Ziel erreichen. Zuletzt waren es gut 60 Prozent.

Unsere Quellen:

  • SWR
  • Nachrichtenagentur Reuters, AFP
  • Deutsche Bahn
  • Interview mit Markus Hecht
  • Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg
  • Bundesverkehrsministerium
  • Eisenbahnbundesamt