Seit dem Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober gab es in Deutschland pro Tag durchschnittlich 29 antisemitische Vorfälle mit Bezug zum Hamas-Massaker. Diese Zahl haben Experten des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) ermittelt. Im Vergleich zum Jahresdurchschnitt von sieben Vorfällen am Tag 2022 sei dies ein Anstieg von 314 Prozent, teilte der Verband mit.
Für Jüdinnen und Juden in Deutschland sei Antisemitismus ein "alltagsprägendes Phänomen", sagte RIAS-Referent Daniel Poensgen dem WDR. Daher zögen sich viele Jüdinnen und Jüden in ihre Privaträume zurück, vermieden es, in der Öffentlichkeit Hebräisch zu sprechen und versteckten ihre Kippas unter Mützen. Seit dem 7. Oktober sei "eine neue Situation" entstanden, so Poensgen.
Israeli wegen Flagge in eigener Wohnung überfallen
Berichtet werde vermehrt von Vorfällen an Orten des Alltags wie Arbeitsplätzen, Hochschulen oder in der Nachbarschaft. So seien zum Beispiel in Gießen zwei Männer gewaltsam in die Wohnung eines Israeli eingedrungen, um eine aus dem Fenster hängende Israelflagge zu entfernen. Dem Israeli, der die Polizei rufen wollte, sei dabei das Handy abgenommen und ins Gesicht geschlagen worden, sagte Poensgen. Auch an öffentlichen Plätzen und Gebäuden wurden nach dem 7. Oktober viele Israelflaggen gestohlen und geschändet.
An den Universitäten nehmen Antisemitismus und antiisraelische Propaganda laut RIAS ebenfalls zu. Insgesamt seien 37 antisemitische Vorfälle an Hochschulen dokumentiert worden. Jüdische Studierende hätten berichtet, dass sie von Kommilitonen für das Verhalten Israels verantwortlich gemacht worden seien. Einige seien nicht mehr zur Uni gegangen. In Franken sei an einer Hochschule das Bild einer Person, die sich gegen Antisemitismus engagiere, mit Hassparolen markiert worden.
Stolpersteine werden beschmiert oder entfernt
Zudem seien vermehrt Sachbeschädigungen wie Schmierereien an Gedenkstätten registriert worden. Auch die Stolpersteine des Kölner Bildhauers Gunter Demnig geraten dabei ins Visier. So wurden am Wochenende in Dresden mehrere der Gedenksteine mit Nazi-Symbolen beschmiert. Vergangene Woche wurden in Essen zwei Stolpersteine gestohlen. Der Staatsschutz nahm daraufhin Ermittlungen auf.
Antisemitimismus sei ein "gesamtgesellschaftliches Problem", sagte Poensgen, bei dem seit den Hamas-Anschlägen aber eine Verschiebung zu beobachten sei. Die Zahl der Vorfälle mit Bezug zu israelbezogenen Organisationen wie "Palästina spricht" oder "BDS" sei stark gestiegen, gleiches gelte für Taten mit einem islamistischen Hintergrund.
218 gemeldete antisemitische Vorfälle in NRW seit 7. Oktober
Auch in NRW hat die Anzahl der antisemitischen Vorfälle zuletzt "drastisch zugenommen", sagte Jörg Rensmann, Leiter der RIAS NRW, der Funke Mediengruppe. Vom 7. Oktober bis zum 9. November seien 218 Vorfälle gemeldet worden, erklärte er am Montag in Düsseldorf. Das seien im Schnitt sieben Vorfälle pro Tag. Im vergangenen Jahr seien mit durchschnittlich fünf Vorfällen pro Woche deutlich weniger Fälle dokumentiert worden. Ein Großteil der gemeldeten Vorfälle habe einen Bezug zum antisemitischen Massaker der Hamas und der darauffolgenden militärischen Verteidigung Israels.
So seien bei einer Demonstration in Düsseldorf die Kriegsmaßnahmen in Gaza mit der Schoa gleichgesetzt worden. In Duisburg sollen vor dem Atelier eines jüdischen Künstlers Zettel mit der israelischen Flagge abgelegt worden sein. Diese seien mit der Aufforderung versehen gewesen: "Tretet auf die Flagge, spuckt darauf, verbrennt die Flagge: Free Palestine."
Der RIAS-Bundesverband ist der Dachverband seiner Meldestellen in mehreren Bundesländern. Wer Antisemitismus erlebt oder Zeuge wird, kann sich an diese Stellen wenden. Diese erfassen bundesweit judenfeindliche Vorfälle und vermitteln Betroffenen Unterstützung.
Auch BKA erfasst deutlich mehr antisemitische Straftaten
Das Bundeskriminalamt hatte seit dem Terrorangriff bis Mitte November bundesweit rund 3.700 Straftaten mit Bezug zum Nahost-Konflikt erfasst. 680 davon seien Meldungen zu antisemitischen Straftaten gewesen, sagte BKA-Präsident Holger Münch bei der Herbsttagung seiner Behörde. Diese Zahl liege deutlich über dem Durchschnittswert.
Unsere Quellen:
dpa
Interview im WDR-"Morgenecho"
RIAS
RIAS NRW
Neue Ruhr Zeitung