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Antisemitismus: Mich hassen Menschen, die mich gar nicht kennen | MEINUNG

Stand: 24.11.2023, 06:00 Uhr

Judenfeindlichkeit ist eine Art negative Weltformel - sie gibt vor, für alles einen Schuldigen zu kennen, sagt unser Kolumnist Gerald Beyrodt. Doch wie fühlt sich Antisemitismus an, wenn er sich gegen dich richtet?

Von Gerald Beyrodt

Gerald Beyrodt ist Kultur- und Religionsredakteur, Mitglied einer jüdischen Gemeinde und blickt für den WDR auf die Themen jüdisches Leben und Antisemitismus. | Bildquelle: WDR

Die Wachleute standen schon vor dem Großangriff der Hamas auf Israel vor den Synagogen. Jeder Jüdin, jedem Juden war klar, dass es Antisemitismus gibt, und dass die Bedrohungslage steigt, wenn in Nahost "etwas" passiert. Mir war das auch klar. Jüdinnen und Juden erinnern sich anders als die breite Öffentlichkeit. Anschläge wie die von Halle, aber auch die vielen kleineren "Vorkommnisse" wie die in Wuppertal oder Bochum sind in der jüdischen Community sehr präsent. Jede Jüdin, jeder Jude weiß, dass der Antisemitismus ihn oder sie treffen kann. Aber das ist ein Wissen, dass sich nicht jeden Tag gut aushalten lässt. Häufig schiebe ich solche Gedanken weg.

7. Oktober 2023

Nachrichten von hunderten bestialisch ermordeten Menschen, die in Israel lebten, nicht in Gaza, nicht im Westjordanland. Ich frage Freunde in Tel Aviv, wie es ihnen geht. Eine Freundin schreibt mir, dass sie heute zweimal vom Spielplatz mit ihren Kindern in den Luftschutzraum musste. Ich kenne diesen Spielplatz nahe am Fluss. Ich habe dort im Frühjahr mit ihren Kindern gespielt. Ich frage mich, was das mit einer Kindheit macht, wenn man vom Spielplatz in den Luftschutzkeller muss.

Es folgen Pro-Palästinensische Demos in Deutschland

Mich interessiert die Lage der Palästinenser. Wenn ich in Israel bin, kann ich ins Westjordanland reisen, kann wegen meines deutschen Passes Orte besuchen, die Israelis aus Sicherheitsgründen nicht besuchen dürfen. Das tue ich auch. Doch im Moment der ersten so genannten Pro-Palästina Demonstrationen denke ich: Könnt ihr einmal die Klappe halten oder sagen, dass es euch leidtut? Dass ihr euch von dem Pogrom distanziert? Könnt ihr mal betonen, dass diese Großangriffe der Terrororganisation Hamas, die den Islam im Namen trägt, nicht in eurem Namen geschehen sind? Nichts dergleichen passiert.

Eine dieser Pro-Palästina-Demos erlebe ich aus nächster Nähe. Ein Redner sagt, in Israel seien menschliche Tiere am Werk. Auch die Internationale ist zu hören. Immer wieder Free Palestine-Aufrufe. Seit die Hamas regiert, hat es in Gaza keine freien Wahlen gegeben, aber das stört die Anwesenden offenbar nicht. Für solche Demos bestehen hohe Auflagen. Zu vermuten steht, dass vieles auf Deutsch ungesagt bleibt, wenn deutsch sprechende Polizisten daneben stehen. In den Medien höre ich von den häufigen Aufrufen "From the river to sea". Was das bedeutet wird deutschen nicht jüdischen Zuschauern noch mal erklärt: Israel soll verschwinden, jüdische Israelis sollen sterben. An einem "Tag der Wut", höre ich, ruft die Hamas dazu auf, weltweit gegen jüdische Einrichtungen und gegen jüdische Menschen vorzugehen. Ich gehe an diesem Tag trotzdem zur Arbeit. Der Synagogengottesdienst fällt an diesem Abend aus. Die Polizei hatte nicht genügend Personal übrig, um uns zu schützen.

Woher kommt der Hass?

Mich hassen Menschen, die mich überhaupt nicht kennen. Sie hassen natürlich nicht mich persönlich. Gerald Beyrodt

Vielleicht würden sie mich ganz nett und lustig, sympathisch, vielleicht auch trocken, überheblich oder arrogant finden, wenn sie mich kennen lernten.

So oder so - im Zweifel würden sie mich bespucken, beleidigen, vielleicht auch Schlimmeres. Ich weiß, was Antisemitismus ist. Ich weiß, was gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist. Sie fühlt sich aber ganz anders an, wenn sie sich nicht auf irgendwen, sondern auf mich bezieht.

Der Antisemitismus kennt für alles und jedes eine Erklärung und kennt für alles und jedes einen Schuldigen. Der Antisemitismus ist eine Art negative Weltformel. Juden sollen unglaublich mächtig sein, sie sollen das Kapital beherrschen, im Geheimen die Welt regieren und sowieso die Medien dominieren. Immer geht der Antisemitismus von der geheimen Überlegenheit jüdischer Menschen aus.

Menschen, die sich als Opfer fühlen, können zu vielem bereit sein. Ich soll schuld sein am angeblichen Unglück oder tatsächlichen Unglück irgendwelcher Leute. Der Antisemitismus kennt viele Spielarten und viele Facetten. Es gibt ihn rechts und links, gebildet und ungebildet. Es gibt Antisemitismus, der sich als Kapitalismuskritik tarnt, es gibt Antisemitismus, der sich als Kolonialismuskritik tarnt, und es gibt Antisemitismus, der sich als Israelkritik tarnt. Der Online-Duden hat einen eigenen Eintrag "israelkritisch". Die Begriffe "chinakritisch" oder "irankritisch" kennt er nicht. Diejenigen, die von "Israelkritik" reden, wollen eher hetzen. Die israelische Regierung wird viel und oft kritisiert, auch in Israel.

Antisemitismus ist unter anderem deshalb so attraktiv, weil er vorgibt, auf der Seite der Entrechteten und Benachteiligten zu stehen. Das macht ihn auch für Linke und Woke attraktiv. Sich im Nahostkonflikt auf die Seite der scheinbar Benachteiligten oder Entrechteten zu stellen, ist so einfach. Vor allem dann, wenn man schon vorher festlegt, welche Seite recht hat. Israel wird in der Kunst und Kultur häufig souverän dem Kolonialismus zugeschlagen und die Palästinenser dem "globalen Süden" - der Ländergruppe der Entwicklungs- und Schwellenländer. Dabei stammen die meisten Israelis von Menschen ab, die geflüchtet sind. Seit dem 7. Oktober hat mich besonders erschreckt, wie wenig Empathie ermordete und entführte Israelis bekommen. Nach dem Pogrom ging sehr schnell das fröhliche Kontextualisieren und Hintergrunderklären los. Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek wollte bei der Eröffnung der Buchmesse die Pogrome, die von Gaza ausgingen, mit der Lage der Palästinenser im Westjordanland erklären. Auch UNO-Generalsekretär Guterres lieferte fleißig Kontext, wie er meinte.

Gegen Antisemitismus ist niemand immun. Er kann von Herkunftsdeutschen wie von Migranten ausgehen. Doch es gibt auf linker und woker Seite eine Tendenz, den Antisemitismus mancher Migrantinnen und Migranten zu verharmlosen. Die seien doch selbst benachteiligt.

Klar sind Migranten, welche Herkunft und Religion auch immer, in Deutschland häufig benachteiligt. Dass diskriminierte Menschen andere diskriminieren können, ist nicht sehr komplex. Häufig habe ich trotzdem den Eindruck, dass das noch nicht angekommen ist.

Das muss sich ändern

In den letzten zehn Jahren ist viel passiert im Umgang mit dem Antisemitismus in Deutschland. Der Bund hat einen Antisemitismusbeauftragten. Die Sensibilität für das Thema ist gestiegen und auch das Bewusstsein, wie vielgestaltig der Antisemitismus ist. In guten Momenten habe ich sogar den Eindruck, dass die Floskeln weniger geworden sind. Und in besonders guten Momenten hoffe ich, dass das Land dabei ist, sich die Tragweite des Problems deutlich zu machen. Ich wünsche mir, dass Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz Antisemitismus konsequenter verfolgen. Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft begreift, dass die Demokratie auf dem Spiel steht, wenn es gegen Jüdinnen und Juden geht, und dass Zehntausende dagegen auf die Straßen gingen. Ich wünschte mir, dass mehr muslimische Menschen begreifen, dass Juden und Israelis nicht ihr Unglück sind.

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Kommentare zum Thema

  • warumderhass 26.11.2023, 19:50 Uhr

    Wir sind hier in Deutschland und es gibt absolut keinen Grund in Deutschland lebende jüdische Menschen mit Worten und Taten zu attackieren. Es ist vieles nicht in Ordnung im Nahen Osten, nicht in Israel, nicht in Gaza. Und ja, es gab viele politische Fehlhandlungen in den letzten Jahren - und extreme Positionen auf beiden Seiten. Aber das muss an Ort und Stelle geklärt werden und nicht in Deutschland.

  • Timon 26.11.2023, 15:12 Uhr

    Solidarität mit den Juden und Israel! Unsere jüdischen Mitbürger bereichern und bereicherten unser Land unermesslich. Sollten sich manche mal eine Scheibe von abschneiden!

  • Bert 26.11.2023, 12:31 Uhr

    Ich stehe fest an der Seite Israels und unseren jüdischen Mitbürgern. Jeder der einen Juden in diesem Land angreift oder verbal beleidigt, gehört hinter schloss und Riegel. Shalom .

    • Anonym 28.11.2023, 23:02 Uhr

      Das ist zwar der ganz überwältigende Mehrheitsgesellschaftswille, seit min-destens 2 Jahren aber suspendiert, denn immer , wenn das Thema virulent ist , ist die Polizei nicht da bzw. die Justiz schaltet schlimmstenfalls auf Kuschelkurs, besonders in rotgrünregierten Bundesländern, um die dummen Untertanen nicht zu verstören, die mühsam aufgebaute, ach so heile bunte Multi-Kulti-Schusseligkeit nicht selbst zu torpedieren ! Im öffentl. Raum ist also Selbstschutz und Vorsicht das höchste Gebot, sozusagen die Mutter der Porzelan- vase !