Buchcover: "Nowolipie – Meine jüdische Straße" von Józef Hen

"Nowolipie – Meine jüdische Straße" von Józef Hen

Stand: 16.08.2024, 17:08 Uhr

Ein Erinnerungsbuch, das die Vernichtung andeutend miterzählt: Der polnische Schriftsteller Józef Hen schildert in "Nowolipie – Meine jüdische Straße" jüdisches Leben im Warschau der Zwischenkriegszeit. Eine Rezension von Dirk Hohnsträter.

Józef Hen: Nowolipie – Meine jüdische Straße
Aus dem Polnischen übersetzt von Roswitha Matwin-Buschmann Arco Verlag, 300 Seiten, 23 Euro

"Nowolipie – Meine jüdische Straße" von Józef Hen

Lesestoff – neue Bücher 20.08.2024 04:39 Min. Verfügbar bis 20.08.2025 WDR Online Von Dirk Hohnsträter


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"Die Lage war zu ernst, als daß irgendwer für einen anderen entscheiden konnte. Ich sagte, es wäre wohl das beste, ich führe nach Lemberg, zu meinem Lehrer, dann würde ich weitersehen, vielleicht ginge ich wieder zur Schule, vielleicht fände ich Arbeit bei Marian. [...] Meine Irrfahrt begann. Ich bin nie mehr in die Nowolipie zurückgekehrt. Sah nicht mit an, wie meine Straße starb."

Wenn in der Literatur von Krieg, Verfolgung und Vernichtung die Rede ist, erwartet die Leser in aller Regel Schilderungen des Schreckens und Bilder der Grausamkeit. Józef Hen hingegen deutet nur an, was die Besatzung Warschaus durch die Deutsche Wehrmacht bedeutete, indem er stattdessen von dem berichtet, was unwiederbringlich ausgelöscht wurde: das jüdische Leben in jenen Straßen der polnischen Hauptstadt, die als Warschauer Ghetto in die Geschichtsbücher eingingen.

"Am nächsten Tag, schon nach der Seder-Feier, fanden wir uns am Tor ein und beäugten kritisch die neuen Festanzüge, die wir trugen. Dann spielten wir Nüsserollen auf einem schräg an die Hauswand gelehnten Brett. Eine das Brett hinunterrollende Nuß mußte eine schon auf dem Pflaster liegende andere treffen – wem das gelang, der durfte alle einsammeln. Ich kam jedesmal ohne Nüsse nach Hause."

In 28 kurzen Kapiteln erzählt Hen von den ersten sechzehn Jahren seines Lebens, bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs im Herbst 1939. Es sind Episoden aus Kindheit und Jugend, die in einem Mikrokosmos aus Straßen und Hinterhöfen spielen. Wir lernen Geschwister und Großeltern, Bedienstete und Spielkameraden, Nachbarn und Gewerbetreibende kennen, das rege jüdische Leben im Warschau der Zwischenkriegszeit mit seinen täglichen Mühen, Auseinandersetzungen, Ritualen und festlichen Bräuchen.

"Die aus den frommen Häusern traten am frühesten ein ins Erwachsenenleben. Ein dreizehnjähriger Knabe beging öffentlich seine Bar-Mizwa, also seine feierliche Konfirmation, da mußte er ein Stück aus der Tora vorlesen, dann gab es ein Fest, und wenn der Junge aus vermögendem Hause stammte, beglückte man ihn mit einer Uhr, dieses Geschenk bedeutete, daß er erwachsen war."

Indem Hen die friedliche, lebendige, polnisch-jiddische Welt in der Nachbarschaft seiner Nowolipie-Straße wachruft, dreht er den Zeitverlauf um. Wir wissen längst, wie die Geschichte ausging, wissen um die Auslöschung seines Stadtviertels. Um so beklemmender sind die gelegentlichen Fragen der Erzählerstimme danach, was wohl aus diesem oder jenem Menschen geworden ist, die Hinweise darauf, dass sie nicht überlebten. Hens Erinnerungsbild ist so eindrücklich, weil es die Abwesenheit miterzählt.

"Herrn B. verloren wir später aus den Augen. Es hieß, er habe sich schließlich doch verheiratet und zwar keineswegs schlecht. Ich weiß nicht, was letztlich mit ihm passiert, weiß nicht, wie er umgekommen ist. [...] Ich weiß auch nicht, was mit dem liebenswürdigen, immer lächelnden, schönäugigen Chaskiel, dem Verkäufer koscherer Weine geschah."

Józef Hen verlor durch die Verfolgung seinen Vater und zwei Geschwister. Wenn wir sein Erinnerungsbuch lesen, entsteht nicht nur eine ausradierte Welt vor unseren Augen, sondern das tägliche Leben erscheint als ein Gegenbild zu Gewalt und Grausamkeit. Wiewohl es von der Vergangenheit handelt, ist Hens Buch von beklemmender Aktualität, denn es zeigt, dass erst dann von Frieden die Rede sein kann, wenn ein unbekümmerter Alltag möglich ist.