Buchcover: "Die Entblößten" von Marion Messina

"Die Entblößten" von Marion Messina

Stand: 16.08.2024, 14:10 Uhr

Hyperkapitalismus, Verelendung, Aufruhr: In "Die Entblößten" entwirft Marion Messina ein düsteres Bild von Frankreichs Zukunft. Eine Rezension von Andreas Wirthensohn.

Marion Messina: Die Entblößten
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Hanser, 176 Seiten, 23 Euro.

"Die Entblößten" von Marion Messina

Lesestoff – neue Bücher 28.08.2024 05:26 Min. Verfügbar bis 28.08.2025 WDR Online Von Andreas Wirthensohn


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2007 erschien in Frankreich eine Streitschrift mit dem Titel "Der kommende Aufstand". Verfasst hatte sie ein linksradikales Autorenkollektiv namens "Unsichtbares Komitee", das darin den nahenden Zusammenbruch der westlichen Demokratien samt ihres kapitalistischen Wirtschaftssystems skizzierte. Der propagierte Aufstand sollte, zur Not auch mit Gewalt, eine andere, bessere Gesellschaft hervorbringen. Dieses – je nach Standpunkt düster-raunende oder hoffnungsfrohe Pamphlet – fand auch hierzulande viel Beachtung. Marion Messinas Roman wirkt fast wie eine literarische Umsetzung dieser Theorieschrift. In ihrem Frankreich bricht irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft tatsächlich ein solcher Aufstand aus. Initialzündung ist die Selbstverbrennung eines Studenten vor dem Parlament in Paris. Dieser Student war zuvor Opfer einer Vergewaltigung geworden. Die Täter: junge Leute aus den besseren Kreisen der Gesellschaft, sprich: aus dem elitären, verhassten Establishment. Ein Video dieser Tat ist viral gegangen und sorgt nun dafür, dass sich die Menschen in ganz Frankreich, vor allem aber in der Hauptstadt gegen das System erheben. An der Freiheitsstatue auf der Île aux Cygnes steht in blutroten Lettern zu lesen, warum die breite Bevölkerung sich im herrschenden System nur noch überwacht, ausgebeutet und gedemütigt fühlt:

"Ihr werdet geboren, um euren arbeitenden Eltern weggenommen zu werden. Ihr werdet lernen, der Wirtschaft zu dienen und euch nicht zu beklagen. Ihr werdet keine Kinder bekommen. Ihr werdet allein bei der Arbeit verrecken und ein Kehrwagen wird euch entsorgen."

Dieses Frankreich wird von einer neoliberalen Präsidentin regiert, die den Staat auf ein Minimum zurechtstutzt, sämtliche öffentlichen Dienstleistungen privatisiert und eine Art Überwachungskapitalismus installiert, der jeglichem Widerstand gegen diese Politik mit polizeilicher Härte begegnet. Diese Mischung aus Laissez-faire und bürokratischem Despotismus treibt vor allem die breite Mittelschicht in die Verelendung: Wohnungsnot, sozialer Abstieg, Konformitätsdruck allüberall.

"Paul trifft nur noch Leute, die über die steigenden Lebenskosten besorgt sind, erschöpfte Arbeiter, die nicht mehr für Dienstleistungen und Abstraktionen bezahlen wollen, Bürger, die nicht sehr gebildet, aber wach genug sind, um die stinkenden Übel der Zeit zu erkennen: Steuergeschenke, Korruption, bestechliche Bürgermeister, Straflosigkeit und Arroganz der Mächtigen, die Grauzonen, weder Stadt noch Natur, die durch die Lagerhallen der unverzichtbar gewordenen Handelsketten verunstaltet werden, die Verachtung für die einfachen Leute, die diesen Abscheu spüren, ohne die Gründe dafür zu verstehen."

Paul ist eigentlich promovierter Literaturwissenschaftler, hangelte sich bislang in Paris von einem prekären Job zum nächsten und ist deshalb in die Provinz geflohen, wo er jetzt als Verkäufer hinter der Fleischtheke eines Supermarkts steht. Sabrina ist Lehrerin, alleinerziehend, kurz vor dem Burnout, und sie hat in einer Affekthandlung einen ihrer Schüler gewaltsam gegen die Wand gestoßen – mit vermutlich schwerwiegenden Konsequenzen für sie. Aus Sicht dieser beiden Protagonisten erzählt Messina von einem Frankreich, in dem es brodelt und gärt und in dem Wut und Verzweiflung schließlich in einen blutigen Aufstand münden. Als dritte Perspektive kommt die der Staatspräsidentin ins Spiel, die allenfalls von fern an Marine Le Pen erinnert und viel eher wie eine neoliberal übersteigerte weibliche Variante von Emmanuel Macron wirkt. In ihrer bitterbösen Zustandsbeschreibung der französischen Gesellschaft erinnert Messina tatsächlich an Michel Houellebecq und Virginie Despentes, und ihre Neigung zum soziologischen Essay, die ihren Erstling noch stark geprägt hat, hat sie zum Glück deutlich zurückgefahren. Nur der kommende Aufstand, in den dieser drastische Zustandsbericht mündet, wirkt reichlich stereotyp und wenig realistisch. Hier verfällt die Autorin in simple Schwarz-Weiß-Muster, die sie im Rest des Buches glücklicherweise vermieden hat. "Die Entblößten" ist ein wahrnehmungsscharfer Gesellschaftsroman, zupackend, rasant, durchaus mit Witz und Ironie und von Claudia Kalscheuer wunderbar übersetzt.