Buchcover: "Blizzard" von Henri Cole

"Blizzard" von Henri Cole

Stand: 05.12.2023, 12:00 Uhr

Die gerade verstorbene Literaturpreisträgerin Louise Glück hat von einer „Poesie von seltener Kühnheit“ gesprochen – und dabei die Gedichte Henri Coles im Blick gehabt, den man mit seinem Band "Blizzard" nun auch auf Deutsch kennenlernen kann. Eine Rezension von Ulrich Rüdenauer.

Henri Cole: Blizzard
Zweisprachige Ausgabe. Band 53 der Edition Lyrik Kabinett.
Aus dem Englischen von Henning Ahrens.
Hanser Verlag, 2023.
108 Seiten, 24 Euro.

"Blizzard" von Henri Cole

Lesestoff – neue Bücher 05.12.2023 05:40 Min. Verfügbar bis 04.12.2024 WDR Online Von Ulrich Rüdenauer


Download

"Blizzard" ist der zweite, hierzulande erscheinende Gedichtband des US-amerikanischen Lyrikers Henri Cole. Englisches Original und deutsche Übersetzung stehen sich jeweils auf einer Doppelseite gegenüber, was zum Vergleichen einlädt. Um es vorwegzunehmen: Es hätte sich kaum ein besserer Übersetzer für diese Texte finden können als Henning Ahrens, der nicht zuletzt als Autor von Romanen und Gedichten bekannt ist.

Die Übersetzung ist nicht nur deshalb gelungen, weil sie die lakonische Klarheit von Coles Lyrik kongenial aufgreift, sondern auch weil sie bei größter Treue zum ursprünglichen Text doch einen eigenen suggestiven Ton im Deutschen schafft. Mit einem fast programmatischen Gedicht eröffnet Cole den Band – "Face of the Bee", "Gesicht der Biene", hebt mit einer ganz banalen Begebenheit an:

"Aus einer schwarzroten Pfingstrose getaumelt,
in den Morgenstunden dein Versteck vor der Kälte,
beobachtest du, wie ich Vollkorntoast
mit Marmelade bestreiche. Abrupt
wedele ich dich weg."

Plötzlich, aber nicht schneidend geht dieser szenische Einstieg über in eine reflektierende Passage. Organisch erwächst ein Gedanke aus der alltäglichen Begegnung mit der noch von der frostigen Nacht "taumelnden" und vertraulich angesprochenen Biene, die das lyrische Ich wegzuwedeln sucht:

"Niemand hat seine Instinkte ganz unter Kontrolle,
aber diese zu zügeln – das ist Zivilisation.
Dafür habe ich Mutter und Vater zu danken.
Nach ihrem Tod traten andere an ihre Stelle,
ihren Einfluss auf mein Leben kann ich nicht ermessen."

Und schließlich kehrt das Ich wieder zurück zu dem Lebewesen, das sich auf das Marmeladenbrot stürzt; es wird geradezu zum Wappentier des eigenen Tuns, aber trotz der freundlichen Ansprache nicht vermenschlicht oder gar mit dem Sprecher gleichgesetzt:

"Siehst du, mit deinem struppigen, schwarzen Gesicht,
wie ich – ein männlicher Cisgender – Leben in Sprache
umwandele wie Nektar, aufgesogen
und wieder ausgespien als Gold?"

Dass Henri Coles Band "Blizzard" mit einer summenden Biene beginnt, dürfte kein Zufall sein: Seit der Antike ist sie ein Motiv, das für die Dichtung schlechthin steht – die Biene fliegt noch im 20. Jahrhundert munter durchs Gedicht, bei Ossip Mandelstam oder Rainer Maria Rilke, und weiter in die Gegenwart hinein; man denke an John Burnsides "Bienenmythen" oder an Monika Rincks "Honigprotokolle".

Ordnung, Reinheit, Fleiß und Fülle, Magie und Prophetie, Seele und Inspiration – das sind die Eigenschaften, die Ralph Dutli der Biene in seiner Kulturgeschichte des lebensspendenden Insekts zugesteht; der Nektar selbst ist das süße Ergebnis einer kunstvollen Arbeit.

Mit "Gesicht der Biene" stellt sich Cole aber nicht nur in eine bedeutsame Traditionslinie. Formal lehnt es sich an einen Dichter wie Robert Lowell an, dem im Übrigen in einem Gedicht des Bandes gehuldigt wird. Es erklingen darin auch schon weitere Motive und Themen, die "Blizzard" prägen: der Tod und der zuweilen dünne Firnis der Zivilisation, die Gewalt, die nicht immer unter Kontrolle gebracht wird, die Spuren hinterlassenden Dinge des Lebens – ob es sich um Krankheiten handelt oder die Absurditäten mancher Politiker.

Häufig gibt es in den Gedichten der drei Abteilungen des Bandes jene sanfte Bewegung von einer Beobachtung hin zu einem Gedanken, oder besser zu einem Bedenken – denn das Ich gibt nicht vor, mehr zu wissen, als was ersichtlich ist. Und gerade im mittleren Teil von „Blizzard“ werden idyllisch anmutende Szenen von einer desillusionierten Sicht auf die Gegenwart und einer brutaleren Sprache verdrängt.

"Amerika, diese monströse Sau,
die Autos und Haushaltsgeräte in eine grüne Pampe
aus Dollarscheinen erbricht, wo ist mein Amerika?
[...] Sie haben beteuert, stets
die Wahrheit zu sagen, Herr Präsident, aber das war gelogen, also
presse ich mein Gesicht gegen die Tür Ihres Weißen Hauses,
gewissermaßen ein Schweinehirte, der nach Glück strebt."

In den Gedichten Coles gibt es immer beides, die Verstörung und die Erleuchtung, das Unergründliche und die Einfachheit, elegische Erinnerungen an Verstorbene und wütende Anklage; und nicht selten sind sie getrieben von einem Begehren, das mächtig und gefährdet zugleich erscheint.

Mit "Blizzard" lässt sich ein Lyriker entdecken, der in Zwischenräume vordringt und Wege erkundet, zu einem eigenen Ich zu finden, ohne dabei den Sinn für das Ganze zu verlieren. In "Schwules Bingo in einem Tierheim, Pasadena" durchschreitet er in einem traumhaften Setting Vergangenheit, Diskriminierungen, Selbstfindung, um schließlich zu einem hoffnungsvollen Ende zu gelangen:

"Dennoch erwacht das schlafende Herz,
und gewinnt, angestochen und gefüttert, wieder an Fülle."

"Blizzard" dürfte nicht der letzte Band sein, den wir von Henri Cole auf Deutsch lesen.