Fünf Türkinnen bei Brandanschlag in Solingen ermordet

Interview zur Film-Doku

"Alle sind noch da, nur die Toten nicht"

Stand: 27.05.2013, 06:00 Uhr

Vor 20 Jahren, am 29. Mai 1993, wurde auf das Haus der Familie Genç ein rassistischer Mordanschlag verübt. Wie sich die Tat bis heute auf das Zusammenleben in Solingen auswirkt, zeigt die Dokumentation "Alle sind noch da, nur die Toten nicht". Ein Interview mit einem der Autoren.

Mehrere Monate haben die drei Autoren Charlotte Schwab, Eva Schötteldreier und Pagonis Pagonakis in der Stadt recherchiert, die am 29. Mai 1993 zum Synonym für deutschen Fremdenhass wurde: Solingen. Dort leben die Angehörigen der Opfer des Anschlags weiterhin, denn sie fühlen sich als Büger der Stadt. Die Ergebnisse dieser Spurensuche zeigte das WDR Fernsehen am Montag (27.05.2013) in der Dokumentation "Alle sind noch da, nur die Toten nicht".

WDR.de: 20 Jahre nach dem Brandanschlag auf das Haus der türkischen Familie in Solingen wollen sie mit dem Film neue Ansichten aufzeigen. Was konnten Sie denn nach so langer Zeit noch aufdecken?

Portraitfoto von Pagonis Pagonakis

Autor Pagonis Pagonakis

Pagonis Pagonakis: Bislang wurde meist auf die Elterngeneration der Opfer des Brandanschlags geschaut. Was aber kaum beachtet wurde: Es waren auch Kinder im Haus. Drei von ihnen sind verbrannt, andere wurden gerettet. Jetzt haben wir zum ersten Mal mit einem Mädchen gesprochen, das knapp drei Jahre alt war, als es von seiner Mutter aus dem Fenster des brennenden Hauses geworfen wurde. Sie hat dadurch verletzt überlebt, während ihre Mutter in den Tod sprang. Diese Generation hat bislang niemand so richtig im Blick gehabt und kommt jetzt zum ersten Mal bei uns im Film vor. Wir finden, es ist eine neue, interessante Sicht auf die nachfolgende Generation. 

WDR.de: Sie haben ja nicht nur Mitglieder der Familie getroffen, sondern auch andere Beteiligte. Wie schwierig war es, nach all den Jahren mit diesen Menschen zu sprechen?

Mevlüde Genç äussert sich in Solingen zum Brandanschlag von Solingen von 1993 auf ihr Haus

Mevlüde Genç bei einer Pressekonferenz

Pagonakis: Vor allem bei den Familienmitgliedern mussten wir eine Menge Überzeugungsarbeit leisten. Das Interview mit Mevlüde Genç hat dann ein türkischer Kollege geführt, der das Vertrauen der Familie genießt. Eigentlich möchte sich Frau Genç nicht mehr detailliert zur Tatnacht und den Einzelheiten äußern, weil dies immer alte Wunden aufreißt. So hat sie auch bei offiziellen Veranstaltungen, etwa einer Pressekonferenz, nicht mehr über die Brandnacht gesprochen. 

Den Brandanschlag haben wir aber nicht nur aus Sicht der betroffenen Familie dargestellt, sondern auch aus der der damals politisch Verantwortlichen. So äußert sich etwa der damalige Oberbürgermeister zu Versäumnissen, die rechtsradikalen Umtriebe in Solingen nicht ernst genommen zu haben und wie man sich anschließend mit der Aufarbeitung schwer getan hat. Gesprochen haben wir erstmals auch mit dem Richter des Prozesses, in dem der Anschlag aufgearbeitet wurde. Also wir sind da noch einmal an viele Menschen herangekommen, und alle haben uns gesagt, dies sei ein tiefer, markanter Einschnitt in ihr Leben gewesen. 

WDR.de: Ein Einschnitt oder Wendepunkt war der Anschlag aber nicht nur für die Menschen, sondern auch für die Stadt Solingen, die seitdem ein Synonym für deutsche Fremdenfeindlichkeit ist. Was hat sich durch den Anschlag dort verändert?

Ein Gedenkstein mit den Namen der fuenf bei einem Brandanschlag getoeteten Mitglieder der Familie Genc in Solingen

Gedenktafel in der Unteren Wernerstraße

Pagonakis: Das muss man differenziert sehen. Auf der einen Seite hatten wir das Gefühl, dass sich die Politik am Anfang schwer damit getan hat, mit diesem Ereignis umzugehen. Es gab zum Beispiel viele Diskussionen um ein zentrales Denkmal, das in der Innenstadt errichtet werden sollte. Dafür gab es schon 1994 einen Ratsbeschluss, doch der wurde dann aus verschiedenen Gründen nicht umgesetzt. Dafür hat der Leiter einer Jugendhilfewerkstatt sofort gehandelt und mit den Jugendlichen dieser Einrichtung ein Denkmal geschaffen. Es steht auf dem Hof einer Schule, auf die eines der Opfer ging, und ist heute das zentrale Mahnmal in Solingen. 

Die Stadt selbst hat erst letztes Jahr einen Platz nach Mercimek, dem Heimatort der Familie Genç benannt. Damit wird deutlich, dass es einen harten Kern von Solingern gibt, denen es immer noch sehr schwer fällt, mit dem Anschlag umzugehen. Sie wollen, dass die Stadt weiterhin als Exportstandort für Klingen identifiziert wird. Dass sie plötzlich in einem Atemzug mit Städten wie Rostock oder Mölln genannt wird, tut vielen dort weh. 

WDR.de: Dennoch versteht sich Solingen heute auch als Integrationsstadt. Ist das Zusammenleben der Menschen mit einer unterschiedlichen Herkunft dort besser geworden als vor 20 Jahren?

Pagonakis: Das würde ich schon sagen. Dennoch besinnen sich gerade junge Migranten in Solingen verstärkt auf ihre Traditionen. Das Misstrauen ist größer geworden und die Menschen ziehen sich in ihr eigenes kulturelles Umfeld zurück. Das geschieht vor allem aus dem Gefühl heraus, dass die Menschen dort den Schutz bekommen, den ihnen die Stadt und der Staat nicht geben. Die Integrationsbemühungen sind zwar da, aber es müsste viel mehr passieren. Etwa die damals erhobene Forderung nach einem kommunalen Wahlrecht für alle in Deutschland lebenden Menschen ist bis heute nur für EU-Bürger erfüllt worden.

Im politischen Bereich hat sich also wenig in Sachen Integration getan, anders als im direkten Zusammenleben, wo das heute sehr viel besser funktioniert. Die Enkeltochter von Mevlüde Genç, mit der wir gesprochen haben, hat mit der Integration keine Probleme. Sie geht sehr offen auf die Menschen zu und sieht das Ganze sehr differenziert. Sie blockt nur in den Situationen ab, wo sie Rassismus erlebt, etwa bei rechtskonservativen Menschen in der Stadt. Sie selbst fühlt sich auch als Solingerin, wie alle Mitglieder der Familie. 

WDR.de: Im Moment steht die rassistische Mordserie des NSU im Blickpunkt der Öffentlichkeit, der wieder viele türkischstämmige Menschen zum Opfer gefallen sind. Welcher Zusammenhang mit dem eigenen Erlebten wird da von der Familie gesehen?

Pagonakis: Das hat uns auch interessiert und deshalb haben wir mit einem Psychotherapeuten gesprochen, der Bekir betreut hat, einen der überlebenden Söhne der Familie. Er sagte uns, im Türkischen werde der Staat als Vater verstanden, der sich schützend vor die Familie stellt, wenn ihr Unrecht widerfährt. In Solingen aber habe der deutsche Staat in dieser Vaterfigur ganz klar versagt und das hat zur tiefen Verunsicherung der türkischstämmigen Menschen geführt. 

Demonstranten stehen vor dem Oberlandgericht

Die Opfer des NSU-Terrors

Die Verunsicherung setzt sich jetzt in der NSU-Mordserie fort, wo das Vertrauen in den Staat wieder massiv erschüttert wird. Auch wenn es da keine direkten Zusammenhänge gibt, erleben es die Betroffenen dennoch so, dass es hier eine Kontinuität gibt. Ich habe den Eindruck, dass damals einfach die falschen Schlüsse aus dem Anschlag in Solingen gezogen worden sind. Der tief sitzende Rassismus wurde nie aufgearbeitet, und auch die Integration wurde leider nie ausreichend befördert.

Das Interview führte Robert Franz.