Diskussion mit Schülern über Zwangsehe und Gewalt

Zwangsehe als Unterrichtsthema

Stand: 22.08.2006, 06:00 Uhr

Fatma Bläser sollte sterben, weil sie aus einer Zwangsehe geflohen war. Seitdem engagiert sich türkischstämmige Muslimin im Kampf gegen Gewalt und Unterdrückung. Seit 20 Jahren klärt sie Schüler auf. WDR.de begleitete sie in den Unterricht.

Von Janine Albrecht

Es ist absolut still in der Aula der Astrid-Lindgren-Schule in Düsseldorf. Ein Mädchen sitzt da mit offenem Mund, ein Junge schüttelt den Kopf. Was die beiden so fassunglos erscheinen lässt, ist die Geschichte von Fatma Bläser. Sie liest den Jugendlichen aus ihrem Buch vor. Es sind Erinnerungen an die Kindheit in der Türkei, als sie als Mädchen in einem kleinen Dorf eine Steinigung mit ansehen musste. Die Steinigung einer Schwangeren. Sie liest: "Dann nahm jemand einen Stein, traf Hangül und sie fiel zu Boden. Sie war schwanger und sie konnte sich doch mit diesem Kind in ihrem Bauch gar nicht so schnell bewegen. Sie hielt immer ihren Bauch fest, nicht ihren Kopf oder sonst was. Und jeder im Dorf, egal ob Mann, Frau, Kind, jung, alt, nahm die Steine und schleuderte sie auf sie. Hangül gab irgendwann keinen Ton mehr von sich und überall war Blut." Fatma Bläser versagt selbst manchmal die Stimme, während sie diese Passage vorliest. Das Mädchen Fatma konnte die Wut der Dorfbewohner nicht verstehen, die Wut darüber, dass eine unverheiratete Frau ein Kind bekam und damit die Ehre des ganzen Dorfes beschmutzt hatte.

Wenn die Ehre das Leben bestimmt

Sonja Fatma Bläser

Sonja Fatma Bläser

Ehre - ein Begriff, der auch Fatma Bläsers weiteres Leben bestimmte. Diese Ehre kostete sie fast ihr Leben. Doch sie hat es geschafft, sich aus dem Druck und Zwang ihrer Familie zu befreien. Nach vielen Jahren allerdings erst. Geboren wurde sie in der Türkei, als Kind kam sie nach Deutschland. Mit 17 Jahren wurde sie zwangsverheiratet. Nun erzählt die heute 42-Jährige den Schülern ihre Geschichte.

So wie auch an diesem Morgen in Düsseldorf. Ihr gegenüber sitzen 23 Jungen und Mädchen zwischen 15 und 18 Jahren; mehr als dreiviertel von ihnen sind ausländischer Herkunft. Die meisten stammen aus türkischen Familien, aber es gibt auch Schüler aus Jordanien, Albanien, Marokko und Mazedonien. Äußerlich unterscheiden sich nicht von ihren deutschen Mitschülern. Zum Beispiel Yasemin, die mit ihren Jeans, dem modischen Top und der Baseball-Kappe freches Selbstbewusstsein ausstrahlt. Sie ist - wie die meisten in der Klasse - Muslimin. Aber Kopftuch trägt hier niemand.

"Wir leben ganz modern" - Erfahrungen der Schüler

Fatma Bläser erzählt offen. Sie schaut ihre Zuhörer dabei freundlich an und sucht den Augenkontakt. Und sie fragt auch immer wieder nach: Welche Erfahrungen haben die Jungen und Mädchen selbst gemacht? Wie denken sie über den Begriff Ehre? "Ich darf in Diskotheken gehen, und auch die Mädchen in unserer Familie", meldet sich Mohammed. "Aber was ist denn, wenn du eine Schwester hättest, und die wäre mit einem Deutschen zusammen?", fällt ihm die schüchtern wirkende Mina ins Wort. "Nichts, mein Gott, das ist ihr Leben, die kann machen was sie möchte. Sie soll nur auf sich aufpassen." Doch diese Antwort scheint Mina nicht zu überzeugen. Sie nimmt ihrem Mitschüler seine liberale Einstellung offensichtlich nicht ab.

Die Diskussion ist in vollem Gang. Fatma Bläser hört sehr aufmerksam zu. Immer wieder schaltet sich die Buchautorin ein. Sie versucht zu erklären, warum es so wichtig ist, dass Jungen ihr Verhalten gegenüber Mädchen beobachten; dass niemand sie dazu verpflichten sollte, den "Aufpasser" zu spielen. Und sie erzählt, wie sie sich gegen ihre Eltern durchsetzen musste, um frei leben zu können. Durch ihre authentischen Berichte kommt sie mit der Zeit den Schülern Stück für Stück näher.

Zwei Stunden aufmerksam

Ungewöhnlich für die Klasse: Auch nach zwei Stunden hören alle noch aufmerksam zu, beteiligen sich viele an der Diskussion. Das Pausenzeichen ist längst erklungen, aber niemand hat reagiert. "Es ist erstaunlich, normalerweise sind die Schüler nach einer dreiviertel Stunde nicht mehr in der Lage, sich so zu konzentrieren", sagt Margot Görzte, die Klassenlehrerin. Von ihr ging die Inititative zu der Lesung aus. Denn sie weiß, dass Fatma Bläser viel mehr bei den Mädchen und Jungen erreichen kann als sie mit ihrem Unterricht. "Es ist eben etwas anderes, wenn Frau Bläser aus ihrem Leben erzählt, als wenn ich als Deutsche etwas über Respekt und Toleranz erzähle."

Die Arbeit hört nicht mit der Lesung auf

Was verbindet, ist die ausländische Herkunft, die kulturelle Tradition, der islamische Glaube. Und so suchen auch in der Pause einige das Gespräch mit ihr - allein, ohne dass die Mitschüler es mitbekommen sollen. Als die Autorin vor die Tür geht, huscht ein Mädchen sofort hinter ihr her. "Sie wird absolut kontrolliert. Der Bruder macht sie fertig und sagt, dass er nicht zulasse, dass sie seine Ehre beschmutzt", erzählt Fatma Bläser später. Natürlich hat sie dem Mädchen ihre Hilfe angeboten.

Wenn sie nicht an Schulen liest, hilft sie Frauen und Männern, die vor Unterdrückung, Gewalt, Zwangsehen fliehen wollen. Die konkrete Hilfe kann dann beispielsweise so aussehen, dass sie ihnen eine sichere Unterkunft vermittelt, weg von der Familie; oder sie organisiert Geld für Kleidung und Lebensmittel; sie hilft bei Behördengängen, klärt die Betroffenen über ihre Rechte auf. Und manchmal reicht auch einfach nur ein Gespräch. Derzeit kümmert sich Fatma Bläser um mehr als 30 Frauen. Auf ihrer Internetseite hat sie eine Telefonnummer veröffentlicht, für jeden der Hilfe und Rat braucht. Und Fatma Bläser ist sich sicher, dass auch aus dieser Klasse wieder Einige bei ihr anrufen werden.