Ortsschild Stolberg

Interview: Rechtsextreme in Stolberg

Neonazi-Mythos Stolberg

Stand: 04.04.2012, 00:00 Uhr

Gleich zwei großangelegte Neonazi-Aufmärsche stehen der Kleinstadt Stolberg bei Aachen bevor: Am Mittwoch (04.04.12) und am Samstag (07.04.2012) treffen sich dort Rechtsextreme zum alljährlichen "Trauermarsch". Politikwissenschaftler Dominik Clemens hat in seinem Buch die Tradition neonazistischer Aktivitäten in Stolberg untersucht.

Stolberg im April 2008: Während eines Streits wird der 19-jährige Berufsschüler Kevin P. erstochen. Nur wenige Stunden später marschieren hunderte Anhänger der NPD und der "Freien Kameradschaften" in der Kleinstadt auf. Sie erklären den Totschlag umgehend zu einem Mord aus "Deutschenfeindlichkeit" und nutzen die Migrationsbiographie des Täters, um Aggressionen gegen Migranten zu schüren. Bis zu 800 Neonazis zieht es seither alljährlich im April nach Stolberg. Längst gehört der rassistische Aufmarsch zu den wichtigsten Ereignissen in der Neonaziszene NRWs, regelmässig kommen Teilnehmer aus dem gesamtem Bundesgebiet, aus Belgien und den Niederlanden. Politikwissenschaftler Dominik Clemens leitet das Projekt "Lokaler Aktionsplan Aachen" bei "Arbeit und Leben", einer Weiterbildungseinrichtung des Deutschen Gewerkschaftsbunds und der Volkshochschulen. In seinem Buch "Mythos Stolberg" beleuchtet er die Hintergründe der Tat - und den "Mythos", der daraus entstand.

WDR.de: Gehörte das Opfer überhaupt zur rechtsextremen Szene?

Dominik Clemens

Politikwissenschaftler und Buchautor Dominik Clemens

Dominik Clemens: Nach allem, was man mittlerweile weiß: nein. Kevin hatte einzelne Freunde in der Szene, und in der Tatnacht war er mit jemandem unterwegs, der von einem NPD-Treffen kam. Daraus entstand die Ausgangslüge der Neonazis, "ein Kamerad sei von Türken erstochen worden". Das Gericht stellte später fest: Weder war das Opfer ein "Kamerad", noch war der Anlass für den Streit ein politischer. Der Täter war ein in Stolberg geborener Sohn libanesischer Eltern. Die Eltern von Kevin haben sich massiv gewehrt, als die NPD und die sogenannten "Freien Kameradschaften" begannen, ihren Sohn nach der Tat für ihre Zwecke zu vereinnahmen. Sie haben immer wieder darauf hingewiesen, dass er kein Neonazi gewesen ist und Freunde mit Migrationshintergrund hatte. Sie sagen, dass ihnen durch die alljährlichen Demonstrationen, bei denen ihr Sohn für schändliche Zwecke missbraucht werde, jedes Mal neues Leid zugefügt würde.

WDR.de: Wie ist es zu erklären, dass ausgerechnet jene Messerstecherei im April 2008 für die rechtsextreme Szene zum "Mythos", wie Sie es in Ihrem Buchtitel nennen, wurde?

Clemens: Als diese Lüge, dass ein Kamerad getötet worden sei, nicht mehr haltbar war, gab es szeneintern eine Debatte darüber, wie man weiter mit dem Vorfall verfahren solle. Inzwischen hat sich die Behauptung etabliert, wonach Kevin ermordet worden sei, nur weil er Deutscher war, aus einem „antideutschen Rassismus“ heraus. Die Neonazis sprechen auch vom so genannten "Volkstod", das ist die Vorstellung, dass das deutsche Volk im Verschwinden begriffen sei, in einem angeblich von langer Hand gesteuerten Prozess. Sie sagen: Die Migranten wandern, von einer "Mulit-kulti-Mafia" in der Politik erwünscht, nach Deutschland ein. Ziel sei, die Deutschen als Volk auszulöschen.

WDR.de: Der Raum in und um Aachen gilt schon seit Jahren als eine der Hochburgen rechtsextremer Gruppen in NRW, etwa der NPD oder der "Kameradschaft Aachener Land". In welcher Form treten die Neonazis dort an die Öffentlichkeit?

"Kameradschafts"-Mitglied mit T-Shirt mit Aufdruck

"Lange Zeit wenig Widerstand"

Clemens: Zum einen durch die Demonstrationen, die sie organisieren. Die andere Erscheinungsform ist Straßengewalt bis hin zu Terror gegen politische Gegner und solche, die dafür gehalten werden. Im Jahr 2010 wurden zwei junge Neonazis aus Aachen mit selbstgebauten Sprengkörper erwischt. Sie waren damit auf dem Weg nach Berlin zu einer 1.-Mai-Demonstration. Dann gibt es immer wieder Anschläge, kürzlich beispielweise wurde das Gewerkschaftshaus beschädigt und mit Hakenkreuzen besprüht, jüngst auch das Aachener Büro von Amnesty International

WDR.de: Warum zieht es so viele rechtsextreme Gruppen ausgerechnet in diese Region, warum ins kleine Stolberg?

Clemens: Stolberg hat eine lange Tradition neonazistischer Aktivitäten, die bis in die 1960er Jahre zurückreicht, als die "Wiking-Jugend", die sich an der Hitlerjugend orientierte, ihren Bundessitz nach Stolberg verlegte. Seitdem war die Stadt in der Szene ein Begriff. Die Wiking-Jugend wurde 1994 verboten, aber gerade die Älteren, die in dieser Organisation sozialisiert waren, kannten Stolberg natürlich. Zum anderen galt Stolberg lange auch als NPD-Hochburg in NRW – spätestens 2004, als die NPD in den Stolberger Stadtrat einzog. Da war klar, dass es dort auch ein Wählerpotential gibt. Der damalige Hauptorganisator des "Trauermarschs", Ingo Haller, kommt aus dem benachbarten Kreis Düren und war lange NPD Kreisvorsitzender, später Landesvorsitzender. Haller ist inzwischen aus der NPD ausgeschlossen. Außerdem gab es in Stolberg lange Zeit wenig Widerstand gegen diese Gruppen.

WDR.de: Erst vor wenigen Wochen hat die Aachener Polizei eine Sonderermittlungsgruppe "Rechts motivierte Kriminalität", kurz REMOK, gegründet - angeordnet im sogenannten Acht-Punkte-Programm gegen Rechtsextremismus von Innenminister Ralf Jäger (SPD). Wurde die Situation von den Ordnungsbehörden bisher unterschätzt?

Clemens: Bei den gegen Rechtsextremismus engagierten Initiativen in Aachen und Umgebung herrschte schon der Eindruck, dass bei rechten Straftaten nicht mit dem notwendigen Nachdruck ermittelt wurde. Ob sich nun durch REMOK etwas ändern wird, kann man noch nicht sagen. Es ist aber sicherlich richtig, mit Repressionen auf diese gewalttätigen Neonazistrukturen zu reagieren. Andererseits: Im Rahmen der REMOK werden für Stolberg jetzt zehn Beamte abgestellt, während es im Bereich der Prävention und Aufklärung nach wie vor an Mitteln fehlt. Wenn die Polizei sich erst mit einem Vorfall befassen muss, ist es eigentlich schon zu spät. Besser sollte man von unten her den Nährboden bearbeiten, auf dem Neonazistrukturen wachsen.

WDR.de: Sie selber sind mit dem vom Bund geförderten "Lokalen Aktionsplan Aachen" um Prävention bemüht.

Clemens: Im Moment haben wir sogar Geld dafür, kleine Projektpartner zu unterstützen. Allerdings läuft das Progarmm nur über drei Jahre, mit sehr dünner personeller Ausstattung. Dabei werden laufend Anfragen an uns gestellt, die nahelegen würden, eine dauerhafte finanzielle Struktur zu schaffen für den Raum Aachen.

WDR.de: Zum "Trauermarsch" der Neonazis reisen inzwischen jedes Jahr im April auch hunderte Gegendemonstranten aus ganz NRW an, die versuchen, den Auftritt der Rechten in Stolberg zu stoppen. Wie geht die Bevölkerung in Stolberg mit dem alljährlichen Massenauftritt der Rechtsextremen um?

Gegendemonstranten in Stolberg halten ein Transparent

"Das Problem sind definitiv die Neonazis"

Clemens: Es gab dort jahrelang eine Strategie des Wegschauens, des Verharmlosens. Das war der Konsens in Stolberg. Daneben gab es kleine Initiativen oder Einzelpersonen, die versucht haben, etwas dagegen zu unternehmen. Der Wendepunkt kam 2005, als die NPD ihr 40-jähriges bundesweites Parteijubiläum in der Stolberger Stadthalle feierte. Da ist auf Initiative des Bürgermeisters das "Stolberger Bündnis gegen Radikalismus" entstanden. Das ist einerseits ein großer Schritt, dass das Thema überhaupt mal öffentlich diskutiert wird. Andererseits ist aber auch nicht zu erkennen, was das Bündnis außerhalb des Monats April macht. Das Bündnis hat auch einen Konstruktionsfehler im Namen: Es findet sich immer jemand, der meint, fragen zu müssen, was denn mit dem linken Radikalismus sei. Das hemmt insgesamt die Debatte, weil die Stolberger Initiativen sich dadurch zum Teil auf die Position verlegen, dass rechte und linke Extremisten nach Stolberg kämen, um den Streit auf ihrem Rücken auszutragen. Solch ein Blickwinkel ist nicht hilfreich, denn das Problem sind definitiv die Neonazis und nicht Gegendemonstranten, die nach Stolberg kommen, um letztlich die Stolberger zu unterstützen.

Das Interview führte Nina Magoley.