Carsten S. (l) sitzt neben seinem Anwalt Jacob Hösl und verbirgt sein Gesicht hinter einer Kapuze (Aufnahme von

Düsseldorfer NSU-Helfer vor Gericht

Gutachter bescheinigt Carsten S. ein "Reifedefizit"

Stand: 18.03.2015, 12:02 Uhr

Im NSU-Prozess bescheinigte am Mittwoch (18.03.2015) der Gutachter Norbert Leygraf dem Angeklagten Carsten S. zur Tatzeit ein "Reifedefizit". Der mutmaßliche NSU-Helfer, der ab 2003 in Düsseldorf lebte, soll die Tatwaffe für neun Morde an Migranten geliefert haben.

Von Dominik Reinle

Der im NSU-Prozess mitangeklagte mutmaßliche Terrorhelfer Carsten S. hat sich der rechtsextremen Szene vor allem wegen seiner zu Jugendzeiten noch nicht eingestandenen Homosexualität angeschlossen. Das sagte der psychiatrische Gutachter Norbert Leygraf am Mittwoch vor dem Oberlandesgericht München. Das "betonte Männlichkeitsideal" habe ihn angezogen. Als Carsten S. bei einem seiner Untersuchungsgespräche über seine erste Begegnung mit Uwe Böhnhardt gesprochen habe, seien ihm "fast die Tränen in die Augen gekommen". 

Das Gutachten des Essener Psychiaters Norbert Leygraf soll dem Gericht bei der Beurteilung helfen, ob bei Carsten S. das Erwachsenen- oder das Jugendstrafrecht anzuwenden ist - je nachdem, wie seine geistige Reife um die Jahreswende 1999/2000 beurteilt wird. Damals hatte Carsten S. als 19-Jähriger nach eigener Aussage eine Ceska-Pistole mit Schalldämpfer an Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt übergeben. Eindeutig festlegen wollte sich Leygraf nicht, verwies aber darauf, dass Carsten S. wegen seiner sexuellen Orientierung damals noch keine Partnerbeziehung erlebt und deshalb "Reifedefizite" gehabt habe.

Auch zweiter Gutachter gab keine Empfehlung

Auch der zweite Gutachter Manfred B., ein Mitarbeiter der Düsseldorfer Jugendgerichtshilfe, hatte bei seiner Aussage am 5. Februar 2015 keine Empfehlung abgegeben. Der Jugendgerichtshelfer und Diplom-Sozialarbeiter berichtete damals lediglich von Gesprächen, die er mit S. geführt hatte. Demnach habe S. einst auch deshalb Zugang zur rechten Szene gefunden, weil er sich Ende der 1990er Jahre zu einem rechtsextremen Mitlehrling hingezogen gefühlt habe.

Zugleich Angeklagter und Zeuge

Aus Sicht der Bundesanwaltschaft hat sich Carsten S. durch die Übergabe der Pistole der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht. Denn neun der zehn Todesopfer des NSU seien mit dieser Waffe getötet worden. Das habe er "billigend in Kauf" genommen. Doch Carsten S. ist nicht nur Angeklagter, sondern auch ein wichtiger Zeuge vor Gericht. Er hat den mitangeklagten Ralf Wohlleben stark belastet: Der Ex-NPD-Funktionär soll die Strippen bei der Beschaffung der Mordwaffe gezogen haben.

Umfassendes Geständnis abgelegt

Carsten S., der 1980 in Neu-Delhi geboren wurde und in Jena aufgewachsen ist, gilt als geständiger Aussteiger. Nach seiner Festnahme 2012 in Düsseldorf sagte er umfassend über seine Verbindungen zum NSU aus. Beim Waffenkauf habe er zwar ein schlechtes Gefühl gehabt, aber nicht weiter darüber nachgedacht. Nach drei Monaten Untersuchungshaft wurde er auf freien Fuß gesetzt und in das Zeugenschutzprogramm des BKA aufgenommenIn seiner Vernehmung hatte der gelernte Autolackierer auch erklärt, er habe sich bereits im Herbst 2000 von der rechten Szene gelöst. Ihm sei klar geworden, dass er seine Homosexualität offen leben wolle. Bereits mit 13 Jahren habe er gemerkt, dass er schwul sei. Später sei er Neonazi geworden, weil er sich in einen "rechten" Jungen verliebt habe. Politik habe ihn aber eigentlich nie sonderlich interessiert.

Job bei der Düsseldorfer Aids-Hilfe

Die Pistole Ceska 83, 7,65 Browning mit Schalldämpfer, ist die erste Tatwaffe der dem NSU zugerechneten sogenannten Ceska-Mordserie (Aufnahme vom 01.12.2011)

NSU-Tatwaffe mit Schalldämpfer

2003 zog Carsten S. nach NRW, wo er an der FH in Düsseldorf Sozialpädagogik studierte. Er hielt mehrmals Referate zu den Themen Rechtsextremismus und Prävention. Auch seine Diplomarbeit habe er darüber schreiben wollen, sagte er aus. Das sei für ihn aber "emotional doch zu belastend" gewesen. Ab 2006 hatte S. in Düsseldorf eine halbe Stelle bei der Aids-Hilfe und zusätzlich einen 400-Euro-Job in einem schwul-lesbischen Jugendklub.

Carsten S. verschwieg damals nicht, dass er früher rechtsextrem war. Aber dass er Neonazis im Untergrund eine Waffe übergeben hatte, behielt er für sich. Auch als die Medien immer wieder über die Ceska-Mordserie berichteten, meldete er sich nicht bei den Behörden. Erst als der NSU sich im November 2011 selbst enttarnte, erklärte sich auch S. seinem nächsten Umfeld. Er habe dem Terror-Trio vor Jahren eine Waffe geliefert und befürchte nun, damit könnten Menschen ermordet worden sein. S. nahm sich einen Anwalt, der ihm riet, sich bei der Bundesanwaltschaft zu melden.

GSG-9 stürmte seine Wohnung

Doch dazu kam es nicht: Am 1. Februar 2012 stürmen GSG-9-Kräfte die Wohnung von Carsten S. und dessen Lebenspartner in Düsseldorf. Per Hubschrauber wird er nach Karlsruhe geflogen, wo ihm ein Haftbefehl eröffnet wurde. Nach der Verhaftung gab es im NRW-Landtag kritische Nachfragen, weshalb der Aufenthalt von Carsten S. dem NRW-Verfassungsschutz nicht bekannt gewesen war. Die Antwort: Er sei in NRW nicht in der rechten Szene aufgetaucht.

Anwalt erwartet milde Strafe

Johannes Pausch, Düsseldorfer Rechtsanwalt

Rechtsanwalt Johannes Pausch

Der Anwalt von Carsten S., Johannes Pausch, versteht die Äußerungen von Psychiater Leygraf als Empfehlung für die Anwendung des Jugendstrafrechts bei seinem Mandanten: "Das geht auch aus seinem Vorgutachten hervor", sagte er dem WDR am Mittwoch. Das würde bedeuten, dass für Carsten S. ein geringerer Strafrahmen gelten würde. Während im Erwachsenenstrafrecht für Beihilfe zum Mord lebenslange Haftstrafen möglich sind, beträgt im Jugendstrafrecht die maximale Haftdauer dafür zehn Jahre.

Anwalt Pausch erwartet allerdings ohnehin ein günstiges Strafmaß - unabhängig davon, ob das Gericht schließlich Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht anwendet: "Mein Mandant erfüllt alle Milderungsgründe, zudem besteht bei ihm keine Rückfallgefahr."