NS-Prozess in Hagen
"Erschießungen waren an der Tagesordnung"
Stand: 17.09.2013, 17:04 Uhr
Der Mordprozess gegen ein früheres Mitglied der Waffen-SS ist ist am Dienstag (17.09.2013) im Hagener Landgericht fortgesetzt worden. Der Amsterdamer Politologe David Barnouw ist überzeugt, dass Kollaborateure wie der Angeklagte freiwillig bei Erschießungskommandos mitgemacht haben.
Angeklagt ist der gebürtige Niederländer B., der 1944 als Mitglied der Grenz- und Sicherheitspolizei in Delfzijl bei Groningen an der Ermordung eines Widerstandskämpfers beteiligt gewesen sein soll. Der 92-jährige B., der im Krieg die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hatte, bestreitet, auf den Mann geschossen zu haben und verweist auf seinen Vorgesetzten, der als einziger dabei war. Der Vorgesetzte ist bereits 1985 gestorben. Der Widerstandskämpfer wurde von hinten erschossen. Die SS-Männer behaupteten, er habe fliehen wollen.
"Eine dumme Sache gemacht"
Eine Zeugin, die mit B.s Frau befreundet war, schilderte Abläufe in dem Küstenort zur Besatzungszeit. So habe sie gesehen, wie Erschießungskommandos zusammengestellt worden seien, und sie habe auch Schüsse gehört. Ihre Aussage wurde 2012 in den Niederlanden aufgezeichnet und jetzt verlesen. Von der Erschießung des Widerstandskämpfers habe sie direkt nichts mitbekommen und erst später davon gehört. Ihr Freund, ein Niederländer in Diensten der Sicherheitspolizei in Delfzijl, habe allerdings einmal gesagt, B. habe "eine dumme Sache gemacht".
Eine andere Zeugin, die bei Vernehmungen in Groningen gedolmetscht hatte, gab in ihrer jetzt verlesenen Aussage an, dass Untersuchungshäftlinge in schweren Fällen wie bei Widerstandskämpfern zum Prozess nach Den Haag geschickt worden seien. Später, als es wohl das Gericht nicht mehr gab, seien Häftlinge auch vor Ort erschossen worden.
"Niederländer kollaborierten freiwillig"
Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurden Widerstandskämpfer in den Niederlanden besonders hart verfolgt. "Nach der Schlacht um Arnheim im September 1944 - die letzte, die die Nazis gegen die Alliierten im Westen gewannen - versorgten die Engländer den niederländischen Widerstand mit mehr Waffen", sagte Politikwissenschaftler David Barnouw vom Amsterdamer Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozidstudien am Dienstag zu WDR.de. Gleichzeitig seien Kollaborateure aus Frankreich und Belgien nach Holland vor den vorrückenden Alliierten geflüchtet. "Ihnen war bewusst, dass sie nichts zu verlieren hatten." Diese Konstellation habe den Kampf verstärkt. Zudem habe Adolf Hitler per Erlass standrechtliche Erschießungen erlaubt.
Den rund 25.000 organisierten Widerstandskämpfern hätten damals rund 25.000 holländische Freiwillige in der Waffen-SS gegenübergestanden - bei insgesamt rund neun Millionen Holländer. "Kollaboriert haben Niederländer freiwillig, sie wurden nicht gezwungen", sagte Barnouw. Allerdings seien die Motive unterschiedlich gewesen. Einige hätten Verrat begangen, um sich selbst zu schützen. Andere seien nationalsozialistisch motiviert gewesen.
"Der letzte Prozess dieser Art"
Über die Bedeutung des Verfahrens gegen B. sagte Barnouw: "Es ist wahrscheinlich der letzte Prozess dieser Art." Es stehe kein weiterer gebürtiger Niederländer auf der Fahndungsliste. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg seien in den Niederlanden insgesamt einige hundert holländische und deutsche Kollaborateure zu einer Todesstrafe verurteilt worden. Vollstreckt seien die Urteile schließlich in 40 Fällen. "Danach gab es noch tausende Prozesse, bei denen es um Kollaboration ging", sagte Barnouw.
Bevor B. ab 1944 bei der Bekämpfung des niederländischen Widerstands geholfen habe, sei er an der Ostfront eingesetzt gewesen. "Für solche Leute gehörten Erschießungen zur Tagesordnung - auch von Zivilisten", so Barnouw. Die Frage sei allerdings, ob B. die Tat nach so langer Zeit noch nachgewiesen werden könne.
Zuvor wegen Beihilfe zum Mord verurteilt
B. wurde nach dem Krieg in den Niederlanden in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Später wurde das Urteil in lebenslange Haft umgewandelt. B. war bereits in Deutschland untergetaucht. Das Hagener Landgericht hatte wegen des Todes des Widerstandskämpfers schon einmal ein Verfahren eröffnet. Die Tat war damals aber als Totschlag und damit als verjährt eingestuft worden. Mittlerweile wertet die Staatsanwaltschaft die Erschießung jedoch als Mord - und der verjährt nicht. B. war in Deutschland in den 1980er Jahren bereits wegen Beihilfe zur Ermordung zweier jüdischer Brüder zu sieben Jahren Haft verurteilt worden.
In dem Prozess werden an weiteren Verhandlungstagen voraussichtlich auch Aussagen aus dem Nachkriegsprozess in den Niederlanden verlesen. Am Mittwoch (18.09.2013) sollen zunächst Polizisten aus Deutschland und den Niederlanden gehört werden, die an den neuen Ermittlungen beteiligt waren.