Das Gericht sprach den 94-jährigen Reinhold Hanning am Freitag (17.06.2016) der Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen schuldig. "Sie waren knapp zweieinhalb Jahre in Auschwitz und haben damit den Massenmord befördert", sagte Richterin Anke Grudda in ihrer Urteilsbegründung. Sie sieht Hanning als Rädchen im Getriebe. Er hätte sich durchaus versetzen lassen können, ohne persönliche Konsequenzen für sich befürchten zu müssen, so Grudda. Zudem habe er sich frei bewegen können und über Jahe zugesehen, wie Menschen verhungerten, vergast und erschossen wurden. Eine Mittäterschaft habe ihm aber nicht nachgewiesen werden. Hanning hatte im Verfahren eingeräumt, von den Massenmorden gewusst zu haben, stritt eine Beteiligung daran aber ab. Das Urteil nahm er schweigend zur Kenntnis.
Staatsanwalt forderte sechs Jahre Haft
Die Staatsanwaltschaft hatte dem 94-jährigen Hanning aus Lage im Kreis Lippe vorgeworfen, als Wachmann der SS zwischen 1943 und 1944 im Konzentrationslager Auschwitz Beihilfe zum Mord an mehr als 100.000 Menschen verübt zu haben, und dafür sechs Jahre Haft gefordert. Das Gericht blieb mit fünf Jahren unter dieser Forderung, sprach im Urteil aber von 170.000 Opfern. In dem Vernichtungslager der Nationalsozialisten waren mindestens 1,1 Millionen Menschen umgebracht worden, vor allem Juden. Man vergaste sie zu Tausenden, ließ sie systematisch verhungern oder erschoss sie. Zur Aufgabe der Wachen, so der Vorwurf, habe es gehört, dass die Häftlinge das Lager nicht lebend verließen. Somit habe auch Hanning am Vernichtungszweck mitgewirkt.
Verteidiger denken an Revision
Dass er bei der SS war und später in Auschwitz Dienst tat, hatte Hanning im Prozess nicht bestritten. Der Beihilfe zum Mord für schuldig hielten ihn seine Verteidiger jedoch nicht und hatten Freispruch gefordert: Für eine Verurteilung müsse ihm das Gericht die direkte Beteiligung an einzelnen Taten nachweisen. Er habe zu keinem Zeitpunkt Menschen getötet, geschlagen oder dabei geholfen. Nach dem Urteil erklärten sie, dass eine Revision erwogen werde. Das hänge von der Urteilsbegründung ab. "Möglicherweise gibt es aber auch gute Gründe, den Prozess zeitnah zu beenden."
Der 94-Jährige saß während des Verfahrens meist mit gesenktem Haupt im Rollstuhl und reagierte nicht auf direkte Anreden von Überlebenden. Die Aussage über seine Zeit in Auschwitz hatte sein Anwalt vorgelesen. Wenige Sätze trug er als Entschuldigung persönlich vor: Er bereue, einer verbrecherischen Organisation angehört zu haben. Er schäme sich und es tue ihm leid.
Urteil mit hoher symbolischer Bedeutung
Die Holocaust-Überlebenden, die den Prozess beobachtet hatten, reagierten erleichtert auf das Urteil. Am Vorabend hatten sie eine Erklärung unterzeichnet, in der es hieß: "Diese Bestrafung ist eine moralische Pflicht der gesamten zivilisierten Menschheit." Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, erklärte: "Die Verurteilung des SS-Mannes hat für die Opfer und ihre Angehörigen eine hohe Bedeutung." Das Urteil könne aber nicht die Jahrzehnte langen Versäumnisse der deutschen Justiz wieder gutmachen.
Ähnlich kritisch äußerte sich NRW-Justizminister Thomas Kutschaty (SPD): Die Bundesrepublik habe viel zu spät damit begonnen, "Täter und Teilnehmer" der Gräueltaten des NS-Regimes angemessen zu bestrafen. "Es ist die Aufgabe des Rechtstaats, alle Täter zur Rechenschaft zu ziehen, auch wenn sie heute erst mit über 90 Jahren vor Gericht stehen." Das, so Kutschaty weiter, "schulden wir den Opfern, ihren Angehörigen und Nachkommen." Auch der Jüdische Weltkongress, der die nicht in Israel lebenden Juden politisch vertritt, meldete sich zu Wort: "Er hat die Strafe bekommen, die er verdient", so Präsident Ronald S. Lauder. "Ohne die aktive Hilfe von Menschen wie ihm wäre Auschwitz nicht möglich gewesen."
Haft auch für "Buchhalter von Auschwitz"
Hanning ist der zweite ehemalige SS-Angehörige, gegen den in jüngster Zeit ein Urteil wegen Beihilfe zum Mord in Auschwitz ergangen ist. Das Landgericht Lüneburg hatte im Juli 2015 den als "Buchhalter von Auschwitz" bezeichneten Oskar Gröning zu vier Jahren Haft wegen der Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, der Bundesgerichtshof muss noch über eine Revision entscheiden. Ein anderer angeklagter Auschwitz-Wachmann starb im April 2016 wenige Tage vor seinem Prozess in Hanau.