Stichtag

22. Oktober 1983 - Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten

Im Kalten Krieg bedrohen sich die NATO und der Warschauer Pakt gegenseitig mit Atomwaffen. Die Sowjetunion richtet Mitte der 1970er Jahre SS-20-Raketen auf Europa. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) fordert deshalb: "Nachrüstung so weit wie nötig zur Herstellung des ungefähren Gleichgewichts." Die Außen- und Verteidigungsminister des Atlantischen Bündnisses verabschieden 1979 den sogenannten NATO-Doppelbeschluss. Dieser sieht Verhandlungen über den Abbau der sowjetischen Mittelstreckenwaffen vor. Bei einem Scheitern der Abrüstungsgespräche wollen die USA nach vier Jahren - also Ende 1983 - ebenfalls mobile Mittelstrecken-Raketen in Europa stationieren.

Immer wieder demonstriert die Friedensbewegung gegen die Rüstungsspirale. Schließlich kommt es am 22. Oktober 1983 zu einem Höhepunkt des Protestes: In Hamburg, West-Berlin und anderen Großstädten finden Demonstrationen statt. Insgesamt beteiligen sich bundesweit etwa 1,3 Millionen Menschen. Allein zwischen Stuttgart und Neu-Ulm bilden rund 200.000 Demonstranten eine Menschenkette. Die Hauptkundgebung findet in der Bundeshauptstadt Bonn auf der Hofgartenwiese statt. Dort beteiligen sich nach Polizeiangaben rund 200.000 Menschen, nach Angaben der Friedensbewegung sind es rund eine halbe Million Demonstranten.

Böll und Brandt als Redner

Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll eröffnet die Bonner Kundgebung mit einer Absage an jede Gewalt bei den Protesten gegen die Raketenstationierung. Er erinnerte an die erste Großdemonstration 1981, bei der sich SPD-Bundestagsabgeordnete "verschämt in der Nähe der Rednertribüne herumgedrückt haben, nur darauf bedacht, ja nicht fotografiert zu werden, weil sie Angst hatten, aus der Partei ausgeschlossen zu werden." Das ist inzwischen anders: Die sozialliberale Koalition mit Bundeskanzler Schmidt an der Spitze ist 1982 unter anderem am NATO-Doppelbeschluss zerbrochen. Denn auch in der SPD hatte sich großer Widerstand geregt.

Nun steht im Bonner Hofgarten sogar der SPD-Vorsitzende Willy Brandt am Mikrofon. Er wolle für alle sprechen, die guten Glaubens gewesen seien, die sich "an der Nase herumgeführt" fühlten, weil bei den Abrüstungsverhandlungen in Genf kein politischer Wille zur Einigung deutlich werde. Mächtige Leute hätten sich in den Kopf gesetzt, das Aufstellen von amerikanischen Pershing-2-Raketen sei wichtiger als das Wegnehmen von sowjetischen SS-20-Raketen. Dazu müsse man "nein" sagen.

"Washington und Moskau machen uns zu Geiseln"

Petra Kelly, Fraktionssprecherin der Grünen im Bundestag, kritisiert Brandt daraufhin in ihrer Rede: Wenn er einerseits "nein" zu neuen Waffen sage, andererseits aber "ja" zur NATO, dann sei das absurd. Kelly greift aber auch die beiden Supermächte an: "Die gewaltsamen Männer im Weißen Haus und im Kreml spielen mit Massenvernichtungswaffen wie mit Kriegsspielzeug und machen uns zu kollektiven Geiseln." Insgesamt sprechen 16 Redner. Darunter sind Friedensfrauen aus Großbritannien und Italien, ein Commandante der sandinistischen Befreiungsbewegung in Nicaragua und ein Ex-Admiral der USA. Für Aufsehen sorgen Bundeswehrsoldaten in Uniform, die unerlaubt den Protest unterstützen und sich unmittelbar neben der Tribüne mit einem Transparent aufstellen.

Trotz des bundesweiten Aktionstages erreicht die Friedensbewegung ihr Ziel jedoch nicht: Als die Abrüstungsverhandlungen in Genf scheitern, stimmt der Bundestag im November 1983 mit den Stimmen der Union und der FDP für die Stationierung der US-Raketen.

Stand: 22.10.2013

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