Stich 19.JH: Auf der Suche nach John Franklin

Stichtag

19. Mai 1845 - John Franklin bricht zur Nordwestpassage auf

Mitte des 19. Jahrhunderts macht ein Suchtrupp auf King William Island im arktischen Norden Kanadas einen ebenso gruseligen wie skurrilen Fund. In einem acht Meter langen Rettungsboot liegen zwei Skelette, von denen eines Bisspuren aufweist. Das andere ist in Kleider und Pelze gehüllt. In der unendlichen Wüste des ewigen Eises sind die Leichen von Pantoffeln und silbernen Tellern, seidenen Taschentüchern, Kämmen, Schuhcreme und parfümierter Seide umgeben.

Was die halberfrorenen und fast verhungerten Seeleute bewogen hat, die rund 700 Kilogramm schweren Luxusgüter per Hand übers Eis zu schleifen, bleibt bis heute ein Rätsel.

Verbleite Nahrung aus Konserven

Die beiden Skelette und ihre nutzlose Fracht gehören zu einer verschollenen Expedition, die am Morgen des 19. Mai 1845 auf den Schiffen "Erebus" und "Terror" die Themsemündung Richtung Grönland verlässt. Geleitet wird die 128 Mann starke Crew von Sir John Franklin, der acht Jahre lang Gouverneur einer britische Strafkolonie auf Tasmanien war und bereits zwei Expeditionen ins arktische Amerika befehligt hat. Das Ziel des 60-Jährigen ist die legendäre Nordwestpassage, die einen schnelleren Weg vom Atlantik in den Pazifik verspricht. Ohne sie müssen Handelsschiffe, die von Europa nach Asien wollen, den 2.000 Seemeilen längeren Weg um Südamerika herum benutzen.

Schon einmal ist Franklin fast zu Tode gekommen, als einer seiner Expeditionen der Proviant ausging. Deshalb hat er jetzt vorgesorgt. An Bord seiner äußerst solide gebauten Schiffe mit ihren Dampfmaschinen ist neben allerlei nutzlosem Luxus Nahrung für drei Jahre: 30.000 Pfund Fleisch und Gemüse in Konservendosen, dazu vier Tonnen Zitronensaft, welcher der gefürchteten Vitaminmangelkrankheit Skorbut vorbeugen sollen. Damals weiß niemand, dass Zitrusfrüchte ihr Vitamin C schnell verlieren. Zudem ist die Verlötung der Konservendosen an Bord stark bleihaltig, das Schwermetall löst sich daraus. Schnell ist die Nahrung kontaminiert. Bleivergiftung wird den meisten Expeditionsteilnehmern wohl zum Verhängnis. Andere sterben an Tuberkulose.

Vom Eis umschlossen

Die Überfahrt der "Erebus" und der "Terror" verläuft zunächst ohne Zwischenfälle. Ein begleitendes Versorgungsschiff kehrt bald nach England zurück – mit vier Matrosen, die es sich im letzten Moment noch anders überlegt haben. Der Rest der Mannschaft fährt von Grönland zunächst weiter Richtung Westen in die bereits mit Karten erschlossene Meerenge Lancastersund. Zwei Monate nach ihrer Abreise aus England stößt die Expedition noch auf ein Schiff mit Walfängern. Es sind die letzten Weißen, die ihr begegnen. Später werden Inuit den Suchtrupps von verzweifelten Seeleuten berichten, die bei ihrer Wanderung übers Eis begonnen hätten, ihre toten Kameraden aufzuessen.

John Franklin hat die ungeheure Kälte unterschätzt: Die Nordwestpassage, deren vollständige Durchquerung erst Roald Amundsen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelingt, ist über Monate zugefroren, in manchen Jahren ist sie überhaupt nicht eisfrei. Später wird eine Nachricht gefunden, aus der sich ein Teil des Unglücks rekonstruieren lässt. Zum Jahreswechsel 1845/46 sitzt die Mannschaft offenbar zum ersten Mal fest im Eis, im September 1846 wird sie erneut für mindestens 18 Monate eingekesselt. John Franklin stirbt 1847 ohne Hoffnung auf Rettung, 105 überlebende Expeditionsteilnehmer machen sich 1848 übers Eis von King William Island auf den Weg zu einem 600 Kilometer weiter südlich gelegenen Handelsposten. Sie kommen nie dort an.

1848 verlässt ein erster Suchtrupp die britische Insel. Ihm werden noch zahlreiche folgen. 2014 wird das Wrack der "Erebus" in nur elf Metern Tiefe vor King William Island geortet. Geborgen wird es nicht.

Stand: 19.05.2015

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