Der Arbeiter Daniel Hartmann wird im kurpfälzischen Dörfchen Mauer von allen nur der "Sanddaniel" genannt und als geselliger Mensch geschätzt. Tagtäglich schaufelt der 47-Jährige Sand in einer Grube, dort, wo im ältesten Eiszeitalter eine Schleife des Neckars floss. Hin und wieder fördern Hartmann und seine Kollegen dabei auch Knochen urzeitlicher Tiere zutage, die sich in den dicken Sandschichten des früheren Flusslaufs abgelagert haben.
Unter Vorgeschichtlern wie Otto Schoetensack von der Universität im nahen Heidelberg ist die Sandgrube Mauer als Fossilien-Fundstelle bestens bekannt. Deshalb hat Schoetensack den Arbeitern beigebracht, auf solche Urzeit-Überreste zu achten und sie zumindest grob unterscheiden zu können. Als Daniel Hartmann am 21. Oktober 1907 einen dicken, teilweise versteinerten Klumpen freilegt, ahnt er daher sofort, dass ihm offenbar eine sensationelle Entdeckung unter die Schaufel gekommen ist.
Zähne komplett erhalten
Hartmann identifiziert seinen Fund als prähistorischen Unterkiefer, der nicht von einem Tier, sondern von einem Menschen stammt. "Heit heb i de Adam gfunne!", soll der Sanddaniel gerufen haben, als er das Fossil stolz in der der Dorfkneipe vorzeigt. Den Adam hat Hartmann zwar nicht ausgegraben, dafür aber, so stellt der Paläoanthropologe Schoetensack schnell fest, einen Knochen, der Hunderttausende Jahre alt sein könnte. Er tauft den ältesten Hominiden, der je nördlich der Alpen gefunden wurde, auf den Namen "Homo heidelbergensis" und lagert den Unterkiefer im Tresor seiner Universität ein. Dort wird er bis heute verwahrt.
Für die Wissenschaft ist es ein enormer Glücksfall, dass das Fundstück noch alle 16 Zähne enthält. Hätte man allein den Knochen gefunden, wäre es problematisch gewesen, den massiven Unterkiefer überhaupt der menschlichen Ahnenreihe zuzurechnen. In welchem Zweig der Evolutionsgeschichte der Homo heidelbergensis, der sich aus dem Homo erectus entwickelt hat, exakt einzuordnen ist, darüber herrscht bis heute Uneinigkeit. Neueste physikalische Untersuchungen in Heidelberg haben aber ergeben, dass der in Mauer gefundene Methusalem Mitteleuropas vor 609.000 Jahren gelebt hat. Seine Gattung gilt als Vorläufer des Neandertalers.
Leben mit Flusspferden, Nashörnern und Elefanten
Der wahrscheinlich im Alter von 20 Jahren gestorbene Hominide von Mauer besaß ein beneidenswertes Gebiss: von Karies keine Spur. "Er kannte noch kein Getreide", erklärt Kirstin Eck von der Uni Heidelberg. "Im Getreide sind nämlich Stärke, Zucker und Kohlehydrate, all das, was Karies verursacht." Homo heidelbergensis war Jäger; ausgerüstet mit Holzspeer und Faustkeil erlegte er überwiegend Wild. Bei deutlich wärmeren Temperaturen als heute bevölkerten auch gefährliche Tiere wie Flusspferde, Waldnashörner und Elefanten seinen Lebensraum.
Das belegen an die 5.000 rund um Mauer gefundene Fossilien, die zum Teil im Mauerer Museum des Vereins "Homo heidelbergensis" zu sehen sind. Weitere Teile vom "Adam" des Daniel Hartmann sind allerdings trotz intensiver Suche nie aufgetaucht. Erst mit 94 Jahren wird dem Entdecker des weltberühmten Unterkiefers die Ehrenbürgerschaft von Mauer verliehen und eine Straße nach ihm benannt.
Stand: 21.10.2012
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Freitag gegen 17.40 Uhr und am Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.