Eine lapidare Meldung der DDR-Sendung "Aktuelle Kamera" macht Wolf Biermann am 16. November 1976 bis in den letzten Winkel der DDR bekannt: "Die zuständigen Behörden der DDR haben Wolf Biermann … das Recht auf weiteren Aufenthalt in der DDR entzogen." Zum ersten Mal setzt Ost-Berlin damit – gegen alle Rechtsnormen - einem Künstler den Stuhl vor die Tür.
Drei Tage zuvor hatte der im Osten verfemte und dort nur in Intellektuellenkreisen bekannte Liedermacher in der Kölner Sporthalle ein aufsehenerregendes Konzert gegeben. Vor 7.000 Zuhörern und live vom WDR Fernsehen übertragen, rechnete Wolf Biermann vier Stunden lang mit dem Regime seiner Wahlheimat DDR ab. Seine postwendend erfolgte Ausbürgerung löst in Ost und West eine Protestwelle vieler namhafter Künstler aus.
Umzug in den besseren deutschen Staat
Biermann stammt aus dem Hamburger Arbeiterviertel Hammerbrook. Nur wenige Wochen nach seiner Geburt am 15. November 1936 wird der jüdische Vater Dagobert als kommunistischer Widerständler von den Nazis verhaftet. Trotz der Gefahr erzieht Mutter Emma ihren Sohn zum Klassenkampf. "Sie hat mir die kommunistischen Lieder beigebracht", erzählt Biermann später, "und dass ich sie nicht singen darf." 1943 überlebt der Sechsjährige mit seiner Mutter die alliierten Bombenangriffe auf die Hansestadt; im selben Jahr wird Dagobert Biermann im KZ Auschwitz ermordet.
1953 zieht es den überzeugten "jungen Pionier" Biermann in die DDR, den vermeintlich besseren deutschen Staat. "Für mich war es das Land meines Vaters, im politischen Sinne. Dafür ist mein Vater in den Tod gegangen." Der selbst ernannte Arbeiter- und Bauernstaat bietet dem Neuankömmling zunächst alle Chancen. Nach dem Abitur an einem Schweriner Internat studiert Biermann an der Berliner Humboldt-Universität Wirtschaftswissenschaften, später Philosophie und Mathematik. Zur gleichen Zeit kommt er in Kontakt mit Bertolt Brechts Berliner Ensemble, für den jungen Biermann "das beste Theater der Welt".
Maulkorb wegen "Klassenverrats"
Biermann wird als Regieassistent engagiert und beginnt, vom Komponisten Hanns Eisler gefördert, eigene Texte und Songs zu schreiben. Er nennt sich nun "Liedermacher" und baut das Berliner Arbeiter- und Studententheater mit auf. 1963, nach einem Stück über den Mauerbau, wird die regimekritische Truppe verboten. Trotzdem darf Biermann 1964 zu einer Tournee in die BRD reisen. "So gründlich haben wir geschrubbt mit Stalins hartem Besen, dass rot-verschrammt der Hintern ist, der früher braun gewesen", singt er beim Klassenfeind – und erhält dafür nach seiner Rückkehr die Quittung: Wegen "Klassenverrats" straft ihn die DDR-Führung 1965 mit einem totalen Aufführungs- und Publikationsverbot ab.
Von nun an gibt der Liedermacher in seiner Ost-Berliner Wohnung nur noch Privatkonzerte für enge Freunde wie den Schriftsteller Jürgen Fuchs und den ebenfalls mit Berufsverbot belegten Chemiker Robert Havemann. Erst im September 1976, nach elf Jahren künstlerischer Verbannung, darf Biermann in der Prenzlauer Nikolaikirche wieder öffentlich singen. Kurz darauf erhält er überraschend ein Visum für eine Tour durch die Bundesrepublik, die am 13. November mit dem folgenschweren Auftritt in der Kölner Sporthalle beginnt. Nach seiner Ausbürgerung löst sich Biermann von der linken Szene und rechnet als "Troubadour der deutschen Zerrissenheit" (Süddeutsche Zeitung) mit Stumpfsinn und Engstirnigkeit hüben wie drüben ab. Im wiedervereinigten Deutschland wird er mit Ehrungen überhäuft, etwa dem Nationalpreis 1998. Heute lebt Wolf Biermann mit seiner Frau Pamela und den drei gemeinsamen Kindern in Hamburg-Altona.
Stand: 15.11.2011
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