Auf der London Bridge geht es vor 140 Jahren zu wie heutzutage am Kamener Kreuz zu Beginn der Sommerferien. Obwohl alle Häuser auf der einst eng bebauten Brücke längst dem Verkehr gewichen sind, herrscht täglich das totale Chaos. Eine Millionen Menschen, ein Drittel der Bevölkerung Londons, leben in den Arbeitervierteln rechts der Themse; an die 100.000 Fußgänger und Fahrzeuge müssen täglich auf dem Weg in die City dieses Nadelöhr passieren. Endlose Staus und stundenlange Wartezeiten sind die Folge, der Weltmetropole droht der Verkehrsinfarkt.
Eine weitere Themse-Passage östlich der London Bridge muss dringend her. Doch Londons Handelsherren boykottieren lange Zeit kategorisch alle Pläne. Sie fürchten, dass eine herkömmliche Brücke ihre Großsegler von den flussaufwärts gelegenen Hafenkais abschneidet. Eine ausreichend hohe Brücke dagegen erfordert steil ansteigende Zubringer, an denen wiederum die Pferdefuhrwerke scheitern würden.
Neue Brücke in altem Gewand
Unter dem Druck der unhaltbaren Zustände einigt man sich 1884 auf die einmalige, von Architekt Horace Jones und Ingenieur John Wolfe-Barry erdachte Kombination von Zug- und Hängebrücke. Noch zwei Jahre dauert es, bis Prince Edward, später Edward VII., unter Salutschüssen aus dem nahe gelegenen Tower endlich den Grundstein zur Tower Bridge legen kann. Man schreibt den 21. Juni 1886, den ersten Tag des 50. Regierungsjahres von Queen Victoria.
Vier Jahren Bauzeit haben Jones und Wolfe-Barry für die Konstruktion in modernster Stahlbauweise veranschlagt. Zwei je 82 Meter lange Hängebrücken führen zu den großen Türmen, die allein der unverwechselbaren Optik dienen. Zwischen ihnen überbrücken zwei mächtige Klapptore die 61 Meter breite Schifffahrtsrinne. Fußgängern wird die Überquerung bei geöffneter Brücke durch einen Steg in 43 Meter Höhe ermöglicht. Um das historische Stadtbild nicht durch ein stählernes Ungetüm zu verschandeln, verkleiden die Baumeister ihr Kunstwerk mit einem neogotischen, dem Tower angepassten Granit- und Kalksteinmantel.
"Anders als Frankreichs nutzloser Eiffelturm"
"Es bleibt zu hoffen, dass wir das Stahlskelett der Tower Bridge ebenso vergessen werden wie das Skelett einer Frau, wenn wir ihre Schönheit betrachten", notiert Chefingenieur John Wolfe-Barry. Bedingt durch unvorhergesehene Schwierigkeiten und die Verpflichtung, die Fahrrinne während der Errichtung jederzeit passierbar zu halten, steigt die Bauzeit schließlich um das Doppelte – ebenso wie die veranschlagten Kosten von 700.000 Pfund Sterling.
Am 30. Juni 1894 wird die Tower Bridge feierlich eröffnet. Als "neuen Ausdruck englischer Größe" lobt Prince Edward den "technischen Triumph", der, wie Königliche Hoheit nicht vergisst anzumerken, "anders als Frankreichs nutzloser Eiffelturm tätig ist und sich selbst erhält." Bis zu 20 Mal am Tag öffnen sich jahrzehntelang die Brückenklappen in weniger als 90 Sekunden. Angetrieben werden sie von Dampf-Hydraulikpumpen, die man erst 1976 durch moderne Öl- und Elektromotoren ersetzt. Heute heben sie sich nur noch zwei- oder dreimal täglich für große Schiffe. Vorausgesetzt, der Kapitän hat sich 24 Stunden zuvor schriftlich angemeldet.
Stand: 21.06.2011
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