"So weit die Füße tragen" heißt der Roman von Josef Martin Bauer, der in den 1950er Jahren ein großer Erfolg ist. Darin geht es angeblich um die wahre Geschichte eines Wehrmachtsoldaten, der aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft in Sibirien über den Iran nach Deutschland fliehen kann. Vermutlich handelt es sich dabei aber, wie neue Untersuchungen zeigen, um eine Fiktion. Anders verhält es sich beim deutschen Kriegsgefangenen Otto Rinas: Er flieht tatsächlich aus Sibirien. Geboren wird Rinas 1925 in Wiontschemin an der Weichsel, das heute zu Polen gehört. Nach seinem Kriegsabitur wird er als 17-Jähriger zum Arbeitsdienst und zur Panzertruppe der deutschen Wehrmacht eingezogen. Nach der Ausbildung kommt er im Januar 1945 als Fahnenjunker zum Fronteinsatz nach Ostpreußen, wo die Rote Armee gegen Westen vorstößt: "Ich hab an einem Tag", erinnert sich Rinas, "acht russische Panzer abgeschossen. Und insgesamt sind es 13 geworden."
Hunger, aber keine Schläge
Als die deutsche Front überrollt wird, gerät Rinas in Gefangenschaft: "Wir waren Tag und Nacht im Zug." Jeden Tag sinkt die Stimmung in den Waggons. Beim Reiseziel Sibirien denken die deutschen Soldaten an Hunger, Kälte und Tod. Während Rinas in Richtung Osten unterwegs ist, geht der Zweite Weltkrieg zu Ende. Sowjetführer Stalin verkündet im Mai 1945 den Sieg über Hitler-Deutschland. Nach über zwei Wochen kommt der Zug nachts in Sibirien an. Die Gefangenen müssen durch den Wald marschieren. "Dann kamen wir in ein Waldlager", erzählt Rinas. Es werden Holzbaracken gebaut: "16 Bäume mussten vier Mann fällen mit ganz stumpfem Werkzeug." Hunger gehört zum Alltag. Es gibt feuchtes Brot, aber viel zu wenig. Die Gefangenen bauen körperlich ab. Schläge habe es hingegen keine gegeben, sagt Rinas: "Wir sind korrekt behandelt worden."
"Hinein in die Gefahr"
"Plötzlich hieß es, Polen, Litauer und solche Leute, Ausländer, versammelten sich am Tor", so Rinas. "Die sollten repatriiert werden." Kurz entschlossen stellen sich Rinas und einige Kameraden ebenfalls an. Rinas kann polnisch, weil er im deutsch-polnischen Grenzgebiet groß geworden ist. Die List glückt und die Gruppe wird per Zug über den Ural und durch Moskau transportiert. In Polen werden Rinas und seine Kameraden enttarnt. Er kann fliehen und versteckt sich im Gras. Mit neuen Verbündeten springt Rinas immer wieder auf Züge auf. Einmal fahren sie nach seinen Schilderungen sogar mit einem sowjetischen Truppentransport und unterhalten sich mit den Soldaten am Bahnsteig: "Zu unseren Prinzipien gehörte: Wenn die Gefahr groß ist, bloß nicht weglaufen, sondern dann hinein in die Gefahr." Mit Täuschung und Dreistigkeit gelingt Rinas das Unvorstellbare: eine Flucht aus Sibirien, die bis heute nur in diesem einen Fall dokumentiert ist. Nach 4.000 Kilometern Flucht erreicht Rinas am 27. Januar 1946 Berlin. Bei seiner Ankunft setzt er sich in die S-Bahn, fährt durch die Stadt und genießt das Gefühl, nicht mehr gejagt zu werden: "Das ist kaum zu beschreiben, das ist gewaltig."
Später geht es noch weiter nach Westen: Rinas schreibt sich an der wiedereröffneten Kölner Universität ein und studiert Wirtschaftswissenschaften.
Stand: 27.01.2011
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