Rote Laternen und stets geschlossene Fensterläden - in Frankreich sind im 19. Jahrhundert Bordelle ein normaler, wenn auch diskreter Bestandteil des städtischen Lebens. In der Belle Époque werden sie literarisch sogar als gemütlich-verplüschte Orte überhöht: "Jeden Abend gegen elf Uhr ging man hin, einfach, wie man ins Café geht", schreibt Henry René Albert Guy de Maupassant 1881 in seiner Novelle "Das Haus Tellier" über ein Provinzbordell.
"Gegen Mitternacht ging man nach Hause. Die jungen Herren blieben manchmal noch ein bisschen da." Der Maler Henri de Toulouse-Lautrec verewigt das Leben in einem Pariser Salon an der Rue des Moulins. Frankreichs Hauptstadt gilt damals mit seiner Bordellkultur als Hochburg des sexuellen Vergnügens und Lasters. Spezielle Stadtführer verraten einschlägige Adressen. Pariser Luxusbordelle wie "Le Chabanais", "One Two Two" und "Sphinx" sind in Herrenrunden international ein Begriff. Auch während des Zweiten Weltkriegs bleiben die Bordelle in Betrieb - einige werden für die Wehrmacht reserviert.
"Ausnutzung durch den Zuhälter"
Nach der Befreiung Frankreichs ändert sich die Lage für sogenannten Freudenhäuser: Im April 1945 wird Marthe Richard auf Vorschlag einer Résistancegruppe als Delegierte in den Pariser Stadtrat gewählt. Sie war Fliegerin und Spionin für Frankreich während des Ersten Weltkrieges. Nun besucht sie als Mitglied der Gesundheitskommission die Gefängnisse der Stadt und trifft dort mit Prostituierten zusammen. In Polizeibegleitung besichtigt sie auch Luxusbordelle und Absteigen. Ihr Bericht im Dezember 1945 ist ernüchternd: "Es gibt in Paris ungefähr 190 zugelassene 'Maisons de tolérance' ('Häuser der Toleranz'), in denen 1.400 bis 1.500 Frauen untergebracht sind. Sie werden zwei Mal in der Woche ärztlich untersucht. Im Gegensatz zur allgemeinen Annahme entgehen diese Frauen nicht der Ausnutzung durch den Zuhälter. Er bringt sie in den Häusern unter." Die Frauen müssten teilweise 50 bis 60 Kunden täglich bedienen. "Lasst uns die Bordelle und auch die Sittenpolizei abschaffen, lasst uns gegen den Frauenhandel kämpfen." Richards Aufruf beeindruckt den Pariser Stadtrat. Die Schließung der "Maisons closes" ("geschlossene Häuser") wird fast einstimmig beschlossen.
Gesetz wird landesweit gültig
Die Pariser Bestimmung wird schließlich auf ganz Frankreich ausgeweitet: Am 13. April 1946 verabschiedet die Nationalversammlung ein Gesetz, das landesweit die Schließung aller Bordelle binnen einer Frist von sechs Monaten verfügt. Mit der sogenannten "Lex Marthe Richard" verschwindet die Prostitution allerdings nicht. Sie findet nun ganz auf der Straße statt oder wird über Call-Girl-Ringe abgewickelt. Die Lage der Frauen verbessert sich nicht. Rückblickend räumt Richard ein, das nach ihr benannte Gesetz, das noch immer in Kraft ist, sei veraltet: "Mein ganzes Leben lang habe ich nicht gegen die Prostitution gekämpft, sondern dafür, dass die Frauen frei sind."
Stand: 13.04.2011
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Freitag gegen 17.40 Uhr und am Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist in den vier Wochen nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.