Seine ersten Testpersonen sind weibliche und männliche Prostituierte. William Masters beobachtet sie beim Geschlechtsverkehr und bei der Masturbation - rein wissenschaftlich. Hinter einem Schirm verborgen protokolliert der US-Gynäkologe akribisch die Reaktionen. Mit einer Stoppuhr misst er die Zeitdauer, bis die Versuchspersonen zu ihren Orgasmen kommen. Um ihre Atem- und Herzfrequenzen dokumentieren zu können, werden sie verkabelt. Masters betrachtet den Sexualakt als physiologischen Vorgang. Mitte der 1950er Jahre gilt dieses Forschungsprojekt als unerhört. Deshalb finden die ersten Untersuchungen nicht im Labor, sondern im Bordell statt.
Erst wenige Jahre zuvor ist der Kinsey-Report erschienen und hat die Öffentlichkeit schockiert. Die statistischen Erhebungen Alfred Kinseys hatten unter anderem ergeben, dass 85 Prozent der Männer vorehelichen Geschlechtsverkehr hatten, 90 Prozent von ihnen masturbierten und 70 Prozent gelegentlich zu Prostituierten gingen. Dass Kinsey für seine Arbeit angefeindet wurde, stoppt Masters Geltungsbedürfnis nicht. "Hinter all dem Ehrgeiz verbarg sich ein Mann mit einer unglücklichen Kindheit", sagt US-Autor Thomas Maier, der eine Masters-Biografie geschrieben hat. "Er wollte sich einen Namen machen und groß herauskommen."
Fast 10.000 Orgasmen gemessen
Geboren wird William Howell Masters, den alle Bill nennen, am 27. Dezember 1915 in Cleveland im US-Bundesstaat Ohio. Sein autoritärer und sadistischer Vater schlägt ihn. Bill, wie ihn alle nennen, kompensiert die Belastung durch Leistung und verbringt Stunden in der Bibliothek. Nach dem College-Abschluss 1938 studiert er an der Universität von Rochester Medizin. Dabei entdeckt er, dass die Physiologie der menschlichen Sexualität noch nicht systematisch erforscht ist. Dort erst Jahre später beginnt er mit seinem Projekt. Da ist er bereits verheiratet, Vater zweier Kinder und hat in St. Louis eine Gynäkologie-Praxis sowie eine Professur an der dortigen Universität.
Um auch die weibliche Sicht auf die Sexualität zu berücksichtigen, engagiert Masters 1956 Virginia Johnson als Assistentin. Die zwei Mal geschiedene, alleinerziehende Mutter ist allerdings medizinisch nicht qualifiziert. Sie hat zuvor als Sekretärin und Bluessängerin gearbeitet. Dennoch ergänzen sich die beiden gut. Sie hat, was ihm fehlt: kommunikative Kompetenz, Charme und Einfühlungsvermögen. Zusammen mit Virginia Johnson gelingt es Masters, auch Menschen für seine Studie zu gewinnen, die ihren Lebensunterhalt nicht mit Sex verdienen. Zudem betätigen sich die beiden Forscher ebenfalls als Versuchpersonen. Johnson lässt sich von Masters dazu überreden, weil sie den Job braucht. Insgesamt werden rund 700 Frauen und Männer beobachtet und fast 10.000 Orgasmen gemessen.
Studie wird Bestseller
Nach über zehn Jahren geheimer Arbeit stellen Masters und Johnson im April 1966 ihre Ergebnisse auf einer Pressekonferenz in Boston vor. In ihrer Veröffentlichung mit dem Titel "Die sexuelle Reaktion" widerlegen sie etliche Mythen, vor allem in Bezug auf die weibliche Sexualität, sagt Biograf Mayer: "In ihrer Langzeitstudie hatte sich nämlich gezeigt, dass Frauen die Fähigkeit zu multiplen Orgasmen haben und nicht unbedingt einen Mann brauchen, um zum Höhepunkt zu kommen." Die Resonanz ist enorm. Das Buch wird zum Bestseller, obwohl es in einer wissenschaftlichen Sprache verfasst ist. Seit dem Kinsey-Report haben sich die Moralvorstellungen durch die Hippie-Bewegung verändert.
"Die Physiologiestudie war eigentlich eine Vorstufe zur Therapie", sagt der Hamburger Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt. Masters und Johnson hätten von Anfang an Menschen mit sexuellen Problemen helfen wollen. Das belege das zweite Buch des Forscher-Duos: In der 1970 erschienen Veröffentlichung "Impotenz und Anorgasmie" wurde ein Behandlungskonzept für sexuelle Störungen vorgestellt, das auf einer Paartherapie basiert. Auf dem Höhepunkt ihres Ruhms, lässt sich Masters von seiner ersten Frau scheiden und heiratet 1971 seine Assistentin Virginia. Die beiden gründen in St. Louis ihr eigenes Institut, halten Vorträge, bilden Ärzte und Psychologen zu Sexualtherapeuten aus.
Dubioses über Homosexualität und Aids
1979 verspielen Masters und Johnson allerdings ihr Ansehen: In ihrem Buch "Homosexualität" stellen sie eine "Konversionstherapie" vor und behaupten, willige Schwule in Heterosexuelle umwandeln zu können. 1988 schüren sie entgegen dem Forschungsstand mit ihrem Buch "Das verdrängte Risiko" die Angst vor einer allgemeinen Aids-Epidemie.
Weihnachten 1992 sind Masters und Johnson auch privat am Ende: Bill verlangt von Virginia die Scheidung. Er leidet inzwischen an Parkinson und hat seine Jugendliebe Dody wiedergetroffen. Kurz darauf schließt das Masters-und-Johnson-Institut. William Masters stirbt am 16. Februar 2001 in Tucson im US-Bundesstaat Arizona. Die fast zehn Jahre jüngere Virginia Johnson überlebt ihren ehemaligen Chef und Ehemann um gut zwölf Jahre.
Stand: 27.12.2015
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"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.05 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 27. Dezember 2015 ebenfalls an William Masters. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
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