Für die meisten Menschen liegt das gemeinsame Haus Europa jahrelang irgendwo zwischen Milchbergen und Butterseen. Es gibt zwar den Binnenmarkt. "Aber diesen gemeinsamen Markt konnte man im Alltag nur sehr selten erfahren", erklärt Guido Thiemeyer, Historiker der Universität Düsseldorf, das europäische Lebensgefühl. Denn wer die Grenzen passieren will, muss auch seinen Ausweis zeigen.
Das wollen Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten 1985 ändern und verhelfen einem kleinen Moseldorf zu Weltruhm: Im luxemburgischen Schengen, das unmittelbar an Deutschland und Frankreich grenzt, wird am 14. Juni 1985 ein Abkommen unterzeichnet mit dem Ziel, die Personenkontrollen zwischen Frankreich, Deutschland und den Benelux-Staaten abzuschaffen.
"Europa der zwei Geschwindigkeiten"
Zunächst findet der Vertrag allerdings kaum Beachtung. Zumal die fünf Staaten die Öffnung im Alleingang beschlossen haben. "Uns wurde gewissermaßen vorgeworfen, wir würden ein Europa der zwei Geschwindigkeiten einläuten", sagt später Robert Goebbels, ehemaliger Luxemburger Staatssekretär, der für sein Land das Schengener Abkommen unterzeichnet hat.
Als im November 1989 die Berliner Mauer fällt, verzögert sich die anvisierte Reisefreiheit noch einmal. Die Deutschen fürchten, dass mit dem Schengener Abkommen eine neue Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR gezogen werden könnte. Diese Bedenken müssen erst ausgeräumt werden. Zudem muss das Vertragswerk mehrfach überarbeitet werden.
Bewusstsein für Europa
So dauert es zehn Jahre, bis am 26. März 1995 das Schengener Abkommen die Binnengrenzen öffnet. Das oft beschworene Haus Europa ist endlich bezugsfertig, zum Start nehmen sieben Staaten teil. "Damit ist auch das Bewusstsein für einen gemeinsamen Raum Europa geschaffen worden", erklärt Historiker Thiemeyer. Im Jahr 2008 umfasst der Schengen-Raum 26 Staaten, eine ganze Generation wächst ohne Passkontrollen in Europa auf.
In die Freude über den ungehinderten Reiseverkehr mischt sich Anfang des 21. Jahrhunderts die Sorge um die EU-Außengrenzen, die auch gegen Kriminalität, Terrorismus und Einwanderung schützen sollen. Und als im Herbst 2015 tausende Flüchtlinge Schutz in Europa suchen, werden die Rufe nach nationaler Abschottung immer lauter.
Aber die Grenzen bleiben offen – bis Anfang 2020 eine unsichtbare Gefahr die Reisefreiheit vorerst beendet. Zum Schutz vor dem Coronavirus werden auch im Schengen-Raum nationale Grenzen geschlossen und Einreiseverbote angeordnet.
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Stichtag am 27.03.2020: Vor 65 Jahren: Erste Jugendweihe in der DDR