Andreas Breitner, Innenminister Schleswig-Holstein, bei Anti-Meldegesetz-Demo vor dem Bundesrat, 2012

28. Juni 2012 - Neues Meldegesetz im Eiltempo verabschiedet

Stand: 28.06.2017, 00:00 Uhr

Unpopuläre Gesetzesvorhaben werden gern durchs Parlament gejagt, wenn König Fußball regiert. So ist es 2006, als der Bundestag während der Heim-WM die Mehrwertsteuer anhebt. Und so ist es 2010, als im medialen Schlagschatten der WM in Südafrika der Krankenkassenbeitrag erhöht wird.

Am Abend des 28. Juni 2012 tritt die deutsche Elf zum Halbfinale der Europameisterschaft gegen Italien an. Als Mario Balotelli die Italiener mit zwei Toren ins Endspiel schießt, sitzen in Berlin die Abgeordneten fast geschlossen vor dem Fernseher. Im Bundestag verabschiedet derweil eine Rumpfmannschaft ein Gesetz, dass das Meldewesen einheitlich auf Bundesebene regelt. Was in der Gesetzesvorlage genau steht, weiß aber keiner der anwesenden Volksvertreter.

Bundestag verabschiedet Meldegesetz (am 28.06.2012)

WDR 2 Stichtag 28.06.2017 03:40 Min. Verfügbar bis 26.06.2027 WDR 2


Download

Wie sich ein Gesetz ins Gegenteil verkehrt

In nur 57 Sekunden erledigen die 26 Abgeordneten den Tagesordnungspunkt "Gesetz zur Fortentwicklung des Meldewesens (MeldFortG)". Eine Aussprache findet nicht statt, alle Redebeiträge werden lediglich zu Protokoll gegeben. Warum Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) die Versammlung entgegen der Geschäftsordnung für beschlussfähig erklärt, bleibt im Nachhinein ungeklärt. Da auch die Abgeordneten der Opposition nicht von ihrem Recht Gebrauch machen, Protest einzulegen, wird das Abstimmungsergebnis gültig.

"Wer hat wann wie wo gedreht", fragt sich danach nicht nur der Berliner "Tagesspiegel". Denn eigentlich sah der seit 2011 kontrovers diskutierte Gesetzentwurf vor, dass Meldebehörden Daten von Bürgern nur mit deren Einwilligung an Werbetreibende und Adresshändler weitergeben dürfen. Drei Tage vor der Abstimmung aber bringt der CSU-Politiker Hans-Peter Uhl mit Flankenschutz aus der FDP im Bundestags-Innenausschuss eine Vorlage durch, die die ursprüngliche Zustimmungsregelung ins Gegenteil verkehrt.

Sturmlauf gegen die Parlamentsposse

So steht dann in dem im Eiltempo verabschiedeten Gesetz: Bürger können eine Weitergabe ihrer Daten nur verhindern, wenn sie aktiv Widerspruch einlegen – wie und wo bleibt offen. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) wird nach eigenen Angaben nicht von seinem Parteifreund Uhl über die gravierende Änderung informiert. Die ebenfalls involvierte Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) bekennt in der "Tagesschau": "Ich habe es nicht realisiert. Es ist an uns vorbeigegangen."

CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl

CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl

Auch bei der Opposition dauert es eine Woche, bis die ganze Fragwürdigkeit des Vorgangs klar wird. SPD-Chef Sigmar Gabriel macht gegen die peinliche Gesetzesposse mobil und sein Innenexperte Dieter Wiefelspütz bekennt selbstkritisch: "Es ist nicht ganz optimal gelaufen." Unisono mit Datenschützern laufen nun Spitzenpolitiker aller Parteien Sturm gegen das werbefreundliche Meldegesetz und sein handstreichartiges Zustandekommen. Der "Tagesspiegel" konstatiert politische Instinktlosigkeit und schreibt: "Dieser Prozess offenbart, (…) wie erfolgreiche Lobbyarbeit ablaufen kann."

Neufassung nach Stopp im Bundesrat

Nur CSU-Hardliner Uhl, Initiator des Gesetzesdribblings am Parlament vorbei, verteidigt sich eisern: "Es gibt laut höchstrichterlicher Rechtsprechung in Deutschland kein Recht sich zu verstecken, und dieses Interesse muss auch berücksichtigt werden." Außerdem stelle die Novelle eine erhebliche Verbesserung der bisherigen Gesetzeslage dar; den Meldeämtern werde "immenser Arbeitsaufwand" erspart.

Der Widerstand auf breiter Front verhindert, dass Uhls taktische Offensive zum Erfolg führt. Im September 2012 stoppt der Bundesrat mit den Stimmen der unionsregierten Bundesländer das Meldegesetz in der vorliegenden Fassung. Im Vermittlungsausschuss einigen sich Regierung und Opposition auf eine notwendige generelle Einwilligung von Bürgern zur Datenweitergabe und eine Ausweitung der Zweckbindung für Auskünfte. In dieser Form wird das Meldegesetz dann am 3. Mai 2013 im Bundesgesetzblatt verkündet.

Programmtipps:

Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.

Stichtag am 29.06.2017: Vor 10 Jahren: Verband der Cigarettenindustrie (VDC) löst sich auf