Die deutsche Chemikerin Clara Immerwahr, die erste Frau in Deutschland mit einen Doktortitel

Stichtag

2. Mai 1915 - Clara Immerwahr nimmt sich das Leben

Die Lokalpresse meldet am 8. Mai 1915: "Durch Erschießen ihrem Leben ein Ende gesetzt hat die Gattin des Geheimen Regierungsrates Dr. H. in Dahlem, der zur Zeit im Felde steht. Die Gründe zur Tat der unglücklichen Frau sind unbekannt." Warum sich Clara Immerwahr sechs Tage zuvor mit der Dienstpistole ihres Gatten erschoss, ist auch 100 Jahre nach ihrem Tod nicht ganz klar. Sicher ist nur, dass die 44-Jährige in dieser Nacht ein unglückliches Leben beendet, das vor allem durch die Hochzeit mit Fritz Haber die falsche Wendung bekommen hat.

Geboren wurde Clara Immerwahr am 21. Juni 1870 als Tochter eines promovierten Chemikers, der in Breslau erfolgreich ein landwirtschaftliches Gut bewirtschaftet. In dem wohlhabenden, jüdischen Elternhaus herrscht ein freier Geist. Der Vater ermutigt Clara in ihrem Streben nach höherer Bildung, was seinerzeit noch den Männern vorbehalten ist. Die selbstbewusste junge Frau schafft schließlich mit Sondergenehmigungen das Abitur sowie die Zulassung zum Studium.

Erste promovierte Chemikerin in Deutschland

An der Universität Breslau trifft die Studentin den Dozenten für physikalische Chemie Richard Abegg, der ihr ohne Vorurteile begegnet und gemeinsam mit ihr Publikationen vorbereitet. Von den meisten anderen männlichen Kollegen wird Immerwahr nur belächelt und angefeindet. Doch sie lässt sich nicht aufhalten. Sie ist die erste Frau die an der Universität Breslau promoviert und die erste Frau in ganz Deutschland, die einen Doktor der Chemie erlangt. Doch selbst in der der Promotionsfeier mahnt der Dekan: "Die Frauen sollen nach wir vor ihre schönste und heiligste Pflicht erfüllen, nämlich ein Hort für die Familie zu sein." Doch Clara Immerwahr, die längst das klassische Alter zur Familiengründung überschritten hat, sieht ihren Platz in der Wissenschaft. Deshalb zögert sie auch als kurze Zeit später Fritz Haber um ihre Hand anhält.

Haber ist ein leidenschaftlicher Chemiker wie sie und arbeitet an einer großen Idee: Luft-Stickstoff soll in Form von Ammoniak gebunden werden. Immerwahr überdenkt ihr Nein, heiratet und zieht zu ihrem Ehemann nach Karlsruhe. Die ehrgeizige Wissenschaftlerin hofft, dass beides geht: Familie und Forschen, ein Haus mit zwei Schreibtischen. Doch es kommt anders: Mit der Geburt ihres Sohnes wird Immerwahr zur Vollzeit-Hausfrau und Mutter. Sie ist die Frau an der Seite des genialen, ehrgeizigen und rücksichtlosen Mannes Fritz Haber - vergeudete Jahre für sie. "Was Fritz in diesen acht Jahren gewonnen hat, das - und mehr - habe ich verloren, und was von mir übrig ist, erfüllt mich selbst mit der tiefsten Unzufriedenheit", schreibt die Chemikerin ihrem einstigen Mentor Abegg.

Er macht Karriere, sie den Haushalt

Immerwahr wird immer kleiner, Haber immer erfolgreicher. Er schafft es tatsächlich, den Stickstoff aus der Luft zu binden und wird nach Berlin berufen. Im Ersten Weltkrieg soll er seine Gas-Kenntnisse schließlich auch dem Militär zur Verfügung stellen. Was Haber als seine vaterländische Pflicht ansieht, empfindet Immerwahr als "Perversion der Wissenschaft." Sie ist entsetzt darüber, wie ihr Mann die Entwicklung neuer, schrecklicher Waffen forciert. "Wenn du wirklich ein glücklicher Mann wärst, dann könntest du das nicht machen", soll sie ihm gesagt haben. Der Nationalist dagegen empfindet ihre Kritik als Verrat. Am 22. April 1915 kommt es im belgischen Ypern zum ersten Kriegseinsatz chemischer Stoffe - angeleitet von Fritz Haber. Der Angriff fordert Tausende Tote und Verletzte.

Ein Grund zum Feiern im Hause Haber. Der Chemiker wird zum Hauptmann befördert und trägt bei dem Fest in seiner Dienstvilla stolz seine neue Uniform. Möglicherweise hat Haber sogar seine Geliebte eingeladen. Vielleicht ist es das, was Immerwahr an diesem Tag so verzweifeln lässt: Sie kann ihrer Berufung nicht folgen, ihre Ehe ist ein Scherbenhaufen und ihr Mann ein Kriegs-Täter. Zu viel für die einst so selbstbwusste Frau. An der Garderobe hängt die Dienstpistole ihres Mannes, der sich in der Nacht wie wohl häufiger mit Schlafmitteln betäubt. Clara Immerwahr ergreift die Waffe, geht in den Garten und gibt einen ersten Probeschuss in die Luft ab. Der Zweite gilt ihrem Körper.

In den frühen Morgenstunden am 2. Mai 1915 stirbt Clara Immerwahr. Fritz Haber bricht schon am nächsten Morgen wieder auf - die Pflicht ruft den patriotischen Kriegs-Wissenschaftler an die Ostfront. Er lässt den Sohn alleine in Berlin zurück, feilt weiter an seiner Karriere. Direkt nach dem Ersten Weltkrieg bekommt er den Nobelpreis. Der Chemiker heiratet kurze Zeit später erneut, die Ehe hält aber nicht. Haber stirbt 1934 auf einer Reise in einem Baseler Hotel.

Stand: 02.05.2015

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