Demonstranten tragen am 29. Mai 1993 vor dem ausgebrannten Haus der Familie Genc in Solingen türkische Fahnen

"20 Jahre nach Solingen" - Interview

Langzeitfolgen eines Brandanschlags

Stand: 12.05.2013, 06:00 Uhr

Vor bald 20 Jahren starben in Solingen fünf Menschen durch einen rassistischen Brandanschlag. Filmemacher Mirza Odabaşı hat eine Reportage über das Ereignis und seine Folgen gedreht. Ein Interview mit Odabaşı über Angst, Opferrollen und ein schmerzhaftes Heimatgefühl.

Nach den ausländerfeindlichen Attacken in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Mölln sterben am 29. Mai 1993 bei einem Brandanschlag in Solingen fünf Menschen türkischer Abstammung. Die vier Täter, die das Haus der Familie Genç angezündet haben, sind nach der Verbüßung ihrer Haftstrafen mittlerweile wieder auf freiem Fuß. Doch das Verbrechen ist nicht vergessen.

Der türkischstämmige Designstudent Mirza Odabaşı (25), der in Remscheid aufgewachsen ist, hat nun den Film "93/13 – Zwanzig Jahre nach Solingen" gedreht. Dokumentiert werden darin Gespräche über Alltagsrassismus und die Folgen des Brandanschlags. Unter anderem hat Odabaşı ein Exklusiv-Interview mit Mevlüde Genç geführt. Der 38 Minuten lange Film hat am 29. Mai 2013 Premiere und wird im Kino Cinemaxx in Solingen gezeigt. Vorab lief der gekürzte Film als "Cosmo TV Reportage" am Sonntag (12.05.2013) im WDR-Fernsehen.

WDR.de: Herr Odabaşı, Sie waren fünf Jahre alt, als in Solingen der Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç verübt wurde. Können Sie sich daran noch erinnern?

Mirza Odabasi, Filmautor und Designstudent

Filmautor Mirza Odabaşı

Mirza Odabaşı: Das ist eine Erfahrung, die mich bis heute prägt. Sie hat mich motiviert, nach 20 Jahren diesen Film zu machen. Ich erinnere mich an die Nachricht, dass Rassisten andere Menschen getötet haben aufgrund ihrer Herkunft. Und ich erinnere mich an meine Angst. Obwohl wir damals im fünften Stockwerk wohnten, habe ich von meinem Zimmerfenster einen Wimpel meines Lieblingsfußballvereins Galatasaray Istanbul entfernt, auf dem auch eine türkische Flagge zu sehen war. Man soll nicht wissen, dass hier Türken wohnen – habe ich mir als Kind gedacht.

Ansonsten kann ich mich daran erinnern, dass meine Eltern damals in den 1990er Jahren, als die Brandanschläge gegen Asylbewerber und Ausländer in Deutschland an der Tagesordnung waren, Funkgeräte zu Hause hatten. Ich habe bei den Recherchen zu meinem Film erfahren, dass es damals bei vielen türkischen Familien Funkgeräte zu Hause gab. Einige haben zeitweise nachts auch Wache geschoben.

WDR.de: Wie ist die Idee entstanden, einen Film über den Brandanschlag zu machen?

Odabaşı: Konkret mit dem Gedanken befasst habe ich mich nach der Selbstenttarnung des NSU. Als allmählich bekannt wurde, welche Fehler und Pannen die Behörden bei den Ermittlungen gemacht hatten. Bei mir kam wieder ein Gefühl hoch, das in den letzten Jahren nicht so sehr im Vordergrund gestanden hatte: die Enttäuschung, hier noch nicht angekommen zu sein und akzeptiert zu werden.

In der Bahn habe ich zufälligerweise zwei Frauen darüber sprechen hören, dass der Brandanschlag in Solingen bald 20 Jahre her sei. Das war für mich der Startschuss, dass ich gedacht habe, da muss ich was machen - aus der Perspektive der Betroffenen. Mit den Dreharbeiten begonnen habe ich im September letzten Jahres. Da habe ich mich ins Auto gesetzt und bin zu meinen Interviewpartnern gefahren.

WDR.de: Wie haben Sie den Film finanziert?

Odabaşı: Zu Beginn hatte ich keinerlei Unterstützung und habe viel Geld aus meiner eigenen Tasche bezahlt. Einfach aus dem Grund, weil es für mich eine Herzensangelegenheit ist und ich es satt habe, dass die türkische Community in Deutschland aus ihrer Opferrolle nicht herauskommt. Mein Ziel ist es, aktiv etwas für diese Gesellschaft zu tun und nicht nur passiv auf die Schuldigen zeigen. Ich möchte etwas machen, was gut für das Zusammenleben ist.

Als ich dann meine ersten Film-Previews ins Internet gestellt und meine ersten Interviews gegeben hatte, wurde mir finanzielle Unterstützung angeboten - zum Beispiel vom Landesintegrationsrat NRW und der Stadt Solingen.

WDR.de: Der Untertitel Ihres Films "93/13" heißt "Meine Reise durch Deutschland". Welche Erfahrungen haben Sie während dieser Reise gemacht?

Odabaşı: Der Film bietet eine persönliche Analyse der letzten 20 Jahre von 1993 bis 2013. Das ist für mich nicht nur eine Reise durch Deutschland, sondern auch eine Zeitreise vom Anschlag in Solingen bis zur Selbstenttarnung des NSU. 80 Prozent des Films besteht aus Interviews mit Menschen, die ich auf meiner Reise durch Deutschland getroffen habe. Meine Gesprächspartner haben mich sehr beeindruckt. Egal welches Alter, welcher Job, welche Glaubensrichtung, welchen Wohnort: Bei allen wurde ich in meinen Empfindungen bestätigt. Ich habe mich mit ihnen zum Beispiel über Alltagsrassismus unterhalten und gemerkt, dass wir ähnliche Erfahrungen mit Vorurteilen gemacht haben.

Ich hatte mir in erster Linie Menschen herausgesucht, die auf den Brandanschlag von Solingen aktiv reagiert haben. In Düsseldorf habe ich Cem Özdemir getroffen und ihm von meinem Vorhaben erzählt und er sagte: 'Solingen ist der Grund, warum ich in die Politik gegangen bin.' Dann habe ich herausgefunden, dass der Kölner Schauspieler und Comedian Fatih Çevikkollu vor 20 Jahren im WDR aufgetreten ist und als 20-Jähriger über die Anschläge von Mölln und Solingen gerappt hat. Nach diesem Fernsehauftritt hat sich das Kölner Schauspielhaus bei ihm gemeldet und damit hat seine Karriere begonnen.

WDR.de: Im Trailer des Films sagen Sie, dass das Grundgefühl bei Ihrer Reise nicht Hass, sondern Liebe und Respekt gewesen sei. Welches Verhältnis haben Sie zu diesem Land?

Odabaşı: Verbrechen, wie sie dem NSU angelastet werden, oder der Brandanschlag von Solingen sind für mich sehr schmerzhaft. Selbst meine engsten deutschen Freunde, denen ich das erzähle, können nicht nachvollziehen, was ich fühle. Wenn ich denen sage, das tut mir weh, verstehen sie das nicht. Aber es tut sehr weh. Nichtsdestotrotz gibt es für mich kein anderes Land. Auch wenn meine Eltern aus Anatolien kommen: Remscheid ist meine Heimatstadt. Das, was ich für Remscheid empfinde, empfinde ich nicht ansatzweise für eine türkische Stadt. Natürlich habe ich auf der Gefühlsebene eine Verbindung zur Türkei, aber wenn ich dort drei oder vier Wochen verbringe, dann denke ich schon wieder ans Bergische Land. Es regnet da zwar die ganze Zeit, aber ich will wieder zurück nach Hause.

Ich habe den Film nicht gemacht, weil ich es hasse, hier zu sein. Sondern weil ich hier hingehöre und hierbleiben werde - und ich etwas ändern will, um meine Anwesenheit so angenehm wie möglich zu gestalten.

Das Interview führte Dominik Reinle.

Weitere Themen