Handlich wie ein Handy ist das Reclam-Heft. Generationen von Schülerinnen und Schülern haben es geliebt oder gehasst - das kleine Bändchen mit großer Literatur. Seine Geburtsstunde läutet Mitte des 19. Jahrhunderts der Verleger Anton Philipp Reclam ein.
Eine Werbebroschüre kündigt an, was den Buchmarkt revolutionieren wird: "Im Verlag von Philipp Reclam Junior erscheint in regelmäßiger Folge unter dem Titel Universal-Bibliothek eine Sammlung von Einzelausgaben allgemein beliebter Werke. Jeder Band wird einzeln verkauft."
Ein verlegerischer Coup
Anton Philipp Reclam (1807-1896), Verlagsbuchhändler, Verlagsgründer
Dem Reclam-Verlag gelingt ein Coup, der bis heute Wirkung zeigt. Reclams "Universal-Bibliothek" startet unter anderem mit der zweiteiligen Ausgabe von Goethes "Faust. Eine Tragödie". Das Büchlein hat anfänglich einen elfenbeinfarbenen Einband und kostet zwei Silbergroschen – so viel wie ein Stück Seife oder ein Liter Milch. Eine Änderung des Urheberrechts ermöglicht dem Verlag fortan, Weltliteratur im preiswerten Westentaschenformat zu drucken.
Leipzig: Hans-Jochen Marquardt, Vorsitzender des Literarischen Museums, zeigt im Reclam-Museum in Leipzig Bände aus den 1920er-Jahren
Die Deutsche Bundesversammlung hatte beschlossen, dass 30 Jahre nach dem Tod eines Urhebers dessen Rechte erlöschen und seine Werke "gemeinfrei" werden. Hans-Jochen Marquardt ist Germanist, Sammler von Reclam-Heften und Vorsitzender des Vereins Literarisches Museum in Leipzig: Gemeinfrei meint bis heute,, "dass man keine Tantiemen mehr zu bezahlen braucht an Erben zum Beispiel oder irgendwelche Nutzungsrechte zu kaufen braucht". 53 Hefte hat Reclams zum Auftakt gedruckt - neben Goethe unter anderem auch Lessings "Nathan der Weise".
Das Werk ist ganz nach dem Geschmack von Firmengründer Anton Philipp Reclam. Er ist ein Freimaurer und Mann von rebellischer Natur. Bereits mit Anfang 20 betreibt der Buchhändlersohn eine Leihbücherei mit angeschlossener Lesestube. Dort treffen sich Literaten und Journalisten: frech-forsche Zungen, die die Zensur der Obrigkeit fürchten müssen. Gemeinsam mit Sohn Hans Heinrich, der in den väterlichen Verlag einsteigt, startet er eine Bildungsoffensive. Aber auch leichter Lesestoff darf nicht fehlen.
Bildung für alle ist das Versprechen. Der Massendruck macht dies möglich. Anders als bislang in der Branche üblich wird bei den Auflagen der Reclam-Bände geklotzt und nicht gekleckert. Bereits der "Faust" lässt die Druckmaschinen auf Hochtouren laufen - erst 5.000, dann 10.000 - rund ein halbes Jahr nach Erscheinen sind bereits 20.000 Exemplare verkauft.
Hochmoderne Vertriebswege
Das Geschäft mit den preiswerten Büchern blüht. Die Universal-Bibliothek wächst mit dem Bildungshunger der Bürgerinnen und Bürger. Um die Jahrhundertwende umfasst die Buchreihe bereits etwa 5.000 Nummern. Der Kommunikationswissenschaftler Walter Hömberg: "Das war in einer Zeit des Übergangs von der Agrar- zur Industriegesellschaft und da war der Rohstoff Bildung besonders gefragt." Hans Heinrich Reclam kann nach dem Tod seines Vaters sein kaufmännisches Können entfalten.
Hochmodern sind seine Vertriebswege. Hömberg: "Es gab zum einen den Vertrieb über den klassischen Sortimentsbuchhandel, zum anderen die Direkt-Lieferung an Schulklassen und Universitäts-Seminare." Zudem bietet Reclam als erster Verlag überhaupt seine Bücher Anfang des 20. Jahrhunderts in Automaten zum Kauf an. Die Erfolgsgeschichte setzt sich in den nächsten Jahrzehnten fort.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Steffi Tenhaven
Redaktion: Gesa Rünker
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 10. November 2022 an den Start von Reclams Universal-Bibliothek. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
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