Clara, die Ich-Erzählerin, lebt in den Nuller Jahren in London. Sie ist dreißig und fliegt nur widerwillig zur Hochzeit ihrer gleichaltrigen Cousine nach Caserta, einem Provinzstädtchen in der Nähe von Neapel. Bis zur Pubertät sind die beiden Mädchen unzertrennlich gewesen: die wunderschöne Rossella und die kluge, aber unscheinbare Clara, die von Kindesbeinen an im Schatten ihrer Cousine steht. Beide stammen aus gutem Haus: Was nichts anderes heißt, als dass ihre Zukunft als treusorgende Ehefrau und Mutter vorbestimmt ist.
Doch Clara bricht aus, zieht nach London. Dort will sie ihr Literaturstudium beenden, was ihr selbst nach zehn Jahren noch nicht gelungen ist. Beruflicher Erfolg sieht anders aus, das weiß sie. Und auch privat kann sie in Caserta nicht punkten: Weder ist sie verheiratet noch liiert. Zwar liebt sie in London ihre Freiheit, fühlt sich gleichzeitig aber "verdammt einsam". Auch das gibt sie vor ihrer Familie, vor ihrer Cousine nicht zu. Erst ein zufälliges Treffen mit Flavia, einer ehemaligen Mitschülerin, hilft ihr zu mehr innerer Unabhängigkeit.
Olga Campofreda ist mit ihrem Roman "Anständige Mädchen" ein leiser, sensibler Text gelungen, in dem es kein Richtig oder Falsch gibt: Während Rossella die Traditionen ihrer Heimat nicht infrage stellt und ihren langjährigen Jugendfreund heiratet, kehrt Clara selbstbewusst in die englische Metropole zurück. Im engen Caserta ist ihr klar geworden, dass sich ihr Leben erst dann ändern wird, wenn sie sich selbst ändert: indem sie ganz für sich einsteht.
Eine Rezension von Andrea Lieblang
Literaturangaben:
Olga Campofreda: Anständige Mädchen
Aus dem Italienischen von Vera von Koskull
NONSOLO limoni, 2024
248 Seiten, 23 Euro