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Gemeinsamer Westermann-Wallentin-Tipp

"Bei aller Liebe" von Jane Campbell

Stand: 27.09.2024, 09:58 Uhr

Der Traum eines jeden Hobby-Schriftstellers: zum Vergnügen schreiben, das Manuskript einem Verlag schicken. Und dann wird es ein Bestseller. Genau das ist der Engländerin Jane Campbell mit
"Kleine Kratzer" passiert, in dem sie Geschichten aus ihrem Alltag als Psychotherapeutin aufgeschrieben hat.

Auch in ihrem ersten Roman erzählt die Therapeutin ein bisschen aus dem Nähkästchen. Was macht ein Psychiater, wenn auf seiner Couch eine junge Frau liegt, die er sehr attraktiv findet? Wenn er professionell genug ist, macht er nichts. "Ist gar nicht so ungewöhnlich, dass Analytiker sich in ihre Patienten verlieben. Eine Rolle spielt es nur dann, wenn der Analytiker die Kontrolle verliert. Und das ist mir nicht passiert" stellt Dr. Joe Bradshaw irgendwann selbstzufrieden fest.

Er ist Profi, riskiert für die junge Agnes weder seine Zulassung noch seine Ehe. Es braucht ein paar Jahre und zwei Scheidungen, bis er sich eingesteht, dass er in jeder Frau, vor allem aber in Agnes, eigentlich nach seiner früh verstorbenen Mutter sucht. Spätestens an dieser Stelle könnte man denken: oh nein, Sigmund Freud für Arme. Denkt man aber nicht, weil ohnehin eine Menge Psychiater zum Personal dieses Romans gehören und die Autorin Jane Campbell die Ödipuskomplex-Variante in eine sehr raffinierte, spannende Geschichte einbettet.

Sie kennt sich aus im Seelenleben der Menschen. Analytiker, sagt sie in einem Interview, sind auch nur Menschen und sich auf die eigene Couch zu legen, um sich selbst zu therapieren, hat noch nie funktioniert. Auch bei Joe Bradshaw nicht. Vor allem kannte er Freuds These, dass es nicht einfach ist, die Vergangenheit da zu lassen, wo sie hingehört, nämlich hinter sich. Sie hat stets die Neigung, in die Gegenwart zu sickern. Das tut sie im Roman mit Macht, er trifft Agnes viele Jahre später auf einer Hochzeit wieder. Es kommt zu einem emotionalen Erdbeben.

Campbell schreibt mit viel Ironie und leisem Sarkasmus, schont niemanden, auch ihren eigenen Berufsstand nicht. Bei aller Liebe: "Psychoanalyse hat noch nie jemanden geheilt", heißt es an einer Stelle im Buch, "aber wenn alles gut läuft, hilft sie einem, dass man akzeptiert, wer man ist."

Auch als ältere Frau, die sich wie sie mit blöden Vorurteilen herumschlagen muss. Nicht mehr sexy zu sein, und wahrscheinlich auch dumm, "weil ältere Frauen langweilige Dinge tun, stricken und Katzen halten." Was sie, die 82jährige, einer jungen Frau raten würde? "Frag nicht nach meinem Rat. Mach es auf deine Weise."

Eine Rezension von Christine Westermann und Andreas Wallentin

Literaturangaben:
Jane Campbell: Bei aller Liebe
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
Kjona Verlag, 2024
220 Seiten, 24 Euro