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Tage Alter Musik Herne 2024

Reduce - Reuse - Recycle

In Paraguay gibt es das "Recycled Orchestra", gegründet von dem Musiker und Umwelttechniker Favio Chavez. Er ist in die Slums von Cateura gegangen, wo die Menschen vom Recycling dessen leben, was sie auf der Mülldeponie finden. Auch die Instrumente des Recycled Orchestra bestehen aus solchen Materialien: eine Geige aus Dosen, Holzlöffeln und Metallgabeln, das Saxofon aus einem Abflussrohr, der Korpus eines Cellos aus einem Ölfass. Darauf klingt eine Solosuite von Johann Sebastian Bach erstaunlich sonor, wovon man sich im Dokumentarfilm "Landfill harmonic" überzeugen kann. Man weiß kaum, was man an Chavez’ Initiative mehr bewundern soll, die Bewusstseinsschärfung für Umweltfragen, den sozialpädagogischen Impuls oder einfach den Akt der wundersamen Verwandlung des Materials.

So oder So

Evgeny Sviridov

Charles Burney schrieb über Franz Benda, den Konzertmeister von Friedrich dem Großen, dass er sich einen großen Ruhm erworben habe nicht bloß durch seine »ausdrucksvolle Manier« die Violine zu spielen, sondern auch durch seine »sehr schönen und reizenden Kompositionen für dieses Instrument«. In welch unterschiedlicher Form sich Benda die Solostimme in seinen Sonaten dabei vorstellte, das zeigen die beiden Alternativ-Fassungen der Violinpartie in einer Abschrift seines Meisterschülers Friedrich Wilhelm Rust, die der Nachwelt erhalten blieb. Da entsteht in der Aufführung beim Wiederholen eines Satzabschnitts im Sinne eines Recycling-Vorgangs eine neue kompositorische Gestalt (Ludus Instrumentalis am 14.11.).

Besonders raffiniert

Guillermo Pérez

Eine Kunstproduktion, die höchsten Ansprüchen genügt und sich zugleich des Vergangenen bedient, findet man schon im ausgehenden Mittelalter in der "Ars subtilior". Hier wurden die Prinzipien der Isorhythmie und der Chromatik auf die Spitze getrieben, und es entstand eine Ausdrucksdichte, die auch heute noch fasziniert (Tasto Solo am 15.11.).

Passgenau

Deborah Cachet

Wenn "Recyling" echte Wiederverwertung meint, dann ist Bachs Aneignung von Giovanni Battista Pergolesis »Stabat Mater« eine solche, denn er reicherte das schon zu seiner Zeit berühmte Werk nicht nur musikalisch an, sondern machte daraus ein Gebrauchsstück für den protestantischen Gottesdienst in Form der Psalmkantate "Tilge, Höchster, meine Sünden" (B’Rock Orchestra am 15.11.)

Innovativ tradiert

Capella de la Torre

Etwas überspitzt formuliert, ist das Zeitalter der Renaissance die erste Vintage-Bewegung. An deren Ende wollte man in Italien mit der Erfindung der Monodie sogar die Gesänge der griechischen Antike wiederbeleben. In dieser Epoche zeigte ein Komponist wie Antonio de Cabezón nun eine andere Art von Kreativität in der Aneignung von populären Volksliedern, die er für kontrapunktische Kunststücke in seinen Tientos verwendete (Capella de la Torre am 16.11.).

Von jedem das Beste

Boris Begelman

Wie eine Verschwendung kreativer Energien wirkt es, wenn sich zwei Komponisten und Rivalen wie Giacomo Antonio Perti und Giacomo Cesare Predieri in Bologna am Karfreitag 1704 in zwei gegenüberliegenden Kirchen ein künstlerisches Duell liefern, indem sie zur selben Stunde in Text und musikalischer Anlage ganz ähnlich konzipierte Passionsoratorien aufführten. Einige Jahre später besann sich Perti auf eine Art musikalische Ökonomie oder sogar Wiederherstellung eines musikalisch-ökologischen Gleichgewichts: Er mixte seine Musik mit Teilen aus der Partitur seines  Kollegen, was im 18. Jahrhundert noch als ein Akt der Wertschätzung galt und nicht als Verletzung eines Urheberrechts (Arsenale Sonoro am 16.11.).

Neu organisiert 

Per-Sonat

Bei mehrstimmiger Musik erwartet man, dass sich die Konstruktion der Harmonien nur nachvollziehen und bewahren lässt, wenn sie genau in Noten notiert ist. In Wirklichkeit aber entwickelte sich die Mehrstimmigkeit im Mittelalter aus einer improvisatorischen Praxis. Auch dazu gab es Regeln. Aber gelingen konnte ein solches Musizieren nur, wenn die Sänger die Fähigkeit besaßen, die vorgegebene Choralmelodie in einer Ad-hoc-Vergegenwärtigung weiter zu benutzen und zu überformen. Ein musikalisches Ereignis, das z. B. die Pilger in der Kathedrale von Santiago de Compostela erleben konnten (Per-Sonat am 16.11.).

Berührend reduziert

Mahan Esfahani

Seine sogenannten "Englischen" Suiten hat der junge Bach in Weimar für den eigenen Gebrauch zur Demonstration seiner klavieristischen Fähigkeiten geschrieben. Das d-Moll-Präludium der 6. Suite ragt in dieser Sammlung mit seinen monumentalen Dimensionen hervor. Es ist eine Mischung aus Fuge und italienischem Concerto mit einem quasi improvisatorischen Beginn. Das ist weit entfernt von den französischen Vorbildern für ein "Prélude" zu einer Suite und quasi das Gegenteil einer "Reduktion". Wohl aber eine für Bach typische Art der Aneignung: der aufmerksame, genial weiterentwickelnde Umgang mit den musikalischen Universen seiner Zeit (Mahan Esfahani am 17.11.).

Geistlich wiederaufbereitet

Voces Suaves

Es gibt in der Musikgeschichte aber auch Beispiele echter Wiederverwertung. Der Dichter und Musiker Aquilino Coppini, der in Diensten des Mailänder Kardinals Federico Borromeo stand, suchte sich aus Claudio Monteverdis Madrigalbüchern die passendsten Stücke heraus und versah sie mit neuen geistlichen Versen. Das Besondere dabei: Diese Texte sind eine Art geistliche Übersetzung der weltlichen Madrigaldichtung und behalten deren Phoneme, Akzente und Rhythmen bei. Also auch auf der Ebene der Dichtung eine Art Wieder- oder Weiterverwertung (Voces Suaves am 17.11.).

Weniger ist mehr

Helsinki Baroque Orchestra

Bei Wolfgang Amadeus Mozart schließlich fließt alles zusammen: "Reuse" in ideeller Hinsicht, indem sein »Idomeneo« noch in der Tradition der Gluck’schen Reformopern steht; "Reduce", indem der Komponist nicht davor zurückschreckte, das Werk selbst während der Probenphase noch ohne Hemmungen zu kürzen (in Herne erklingt die Münchner Uraufführungsversion von 1781); "Recycling", indem Mozart die Abläufe aus Rezitativen und Arien in der italienischen und aus Chor- und Ballettszenen in der französischen Oper aufs Wesentliche konzentrierte und daraus seinen originären Opernstil kreierte (Helsinki Baroque Orchestra am 17.11.).

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Im Programm der Tage Alter Musik in Herne geht es neben solchen dramaturgischen Besonderheiten immer auch und vor allem um spannende Konzerterlebnisse mit Ensembles, die aus ganz Europa anreisen und fast alle ihr Debüt bei unserem Festival geben. Im Kulturradio WDR 3 werden sie in den Live-Übertragungen und den Konzertsendungen, die sich bis in den Januar anschließen, ein überregionales, später in den Übernahmen durch die European Broadcasting Union ein internationales Publikum finden. Außerdem sind als aktuelle journalistische Sendungen die WDR 3 Tonart und das Tafel-Confect von BR-Klassik vor Ort und laden das Publikum in ihre Live-Sendungen am Freitag Nachmittag und Sonntag Mittag ein.

Dr. Richard Lorber
Künstlerische Leitung
WDR 3