26.01.2025 – Missy Mazzoli, „The Listeners“ in Essen
Stand: 26.01.2025, 09:30 Uhr
Claire hört ständig einen Brummton, der sie zur Verzweiflung treibt und dazu führt, dass sie ihr Leben als Lehrerin, Hausfrau und Mutter in einem amerikanischen Vorort aufgibt. Wut ist ihr Gefühl und ihre Antriebskraft. Auf der Bühne des Aalto-Theaters sieht man in riesigen Lettern das Wort ANGER – Wut, das in changierenden Farben leuchtet. Wir sind in dem Stück „The Listeners“ von 2022 der amerikanischen Erfolgskomponistin Missy Mazzoli, das in Essen seine deutsche Erstaufführung erlebte.
Claire und ihr Schüler Kyle, der an demselben Phänomen leidet, finden zu dem charismatischen „Philosophen“ Howard Bard, der Menschen um sich schart, um ihnen pseudotherapeutisch im Umgang mit dem Brumm-Leiden zu helfen („Ich allein kann das Brummen nutzbar machen“). Am Ende stellt sich heraus, dass Howard ein durchtriebener Sektenanführer ist, der sich Frauen wie Angela („Ich bin seine Nr.2") oder später auch Claire gefügig macht. Die Gruppe rebelliert und Claire wird die neue Anführerin: „Wir können es besser machen.“ Ob dem wirklich so ist, bleibt offen.
In dem etwa zweistündigen Stück geht es weniger um ein unklares medizinisches Phänomen, sondern um Manipulation und Verführbarkeit. Die Mitglieder der Sektenfamilie sind in der Sekte gefangen, auch weil sie in aufgezeichneten Videos ihre Schwächen und Fehler preisgegeben haben. Diese Videobeichten unterbrechen die Handlung. Sie stehen vor Mikros und im Hintergrund werden ihre gefilmten Porträts überdimensional eingeblendet: z. B. von Kyle dem unglücklichen Schüler, von Angela, die ihrem Vater nachtrauert oder von Danica, die sich ritzt. Sie werden so nahbar, während sie in der Haupthandlung nur willenlosen Sektenmitglieder sind. Ab und zu äußern sich Zweifler wie Thom, der mehr Wissenschaftlichkeit einfordert oder Dillon, der Kriegstraumata erlitten hat.
Dann gibt es den Kojoten, eine stumme Rolle, der Claire die ganze Zeit begleitet, und ihre innere Wildheit repräsentiert. Dazu muss man wissen, dass der Kojoten bei den indigenen Völkern Amerikas verehrt wurden, also positiv assoziiert ist. Und es gibt auch noch den Ehemann und die Tochter von Claire, die vergeblich versuchen, sie zurückzuholen.
„The Listeners“ ist also eine Mischung aus psychologischem Entwicklungsdrama, Rührstück, Gesellschaftsdoku und Thriller. Ein komplexes Arrangement des Librettisten Royce Vavrek nach einer Erzählung von Jordan Taannahill, das aber erst durch die Musik von Missy Mazzoli Struktur und Form gewinnt.
Die Musik kann laut und aggressiv werden, wie bei den aus dem Zuschauerraum kommenden Chornummern, sie kann zart sein, wie bei den Violinsoli, die aber keineswegs für Sentimentalität stehen, sondern für Thoms oder Dillons Zweifel an der Sekte, die Musik kann rumpeln und rülpsen oder zirpen. Mazzoli ist eine Meisterin der Klangfarben. Die Musik bietet im besten Sinn einen illustrierenden Untergrund, über dem die Solisten sich in einem zumeist emphatischen, textverständlichen Deklamationsstil ausdrücken. Zu den Aktschlüssen hört man auch den tieffrequenten Brummton, wie er sich stärker und stärker im Raum ausbreitet. Sie schreibt eine Musik, wie sie vielleicht von einem heutigen Richard Strauss kommen könnte. Das Ganze wurde zupackend und zugleich umsichtig von Essens GMD Andrea Sanguineti in Klang gesetzt, der ein hervorragendes Ensemble mit Betsy Horne als Claire und Heiko Trinsinger als Howard in den Hauptrollen leitet.
Die Regisseurin Anna-Sophia Mahler und ihr Ausstattungsteam zeigen in psychedelischen Farben und mit esoterischen Accessoires eine sich in Trance geratende Sektengemeinde, später dagegn eine in geballter Dynamik aufbegehrende Gruppe. Man versteht die Figuren, den abgefeimten Howard mit Gurumähne, die innere Dynamik von Claire oder ihre ratlose Familie. Die Inszenierung erweist sich im übrigen auch durch die aus dem Zuschauerraum kommenden massiven Chornummern der Musik von Mazzoli als überaus zuträglich.
Die einzige Frage bezieht auf die zeitlichen Proportionen des Abends. Man hat schnell begriffen, wie der psychologische Mechanismus der Sekte funktioniert. Trotzdem wird er aus der Perspektive der zahlreichen Nebenrollen noch mal und noch mal dargestellt. Hier entfernt sich die Oper womöglich vom Detailreichtum des Romans. Claires Wandlung zur neuen Anführerin bzw. ihr Bekenntnis zur eigenen inneren Wildheit (indem sie am Ende die Kojotenmaske aufzieht) wirkt dann fast wie ein Schlusspointe. Schwer zu sagen, ob das schon in der Dramaturgie der Oper angelegt ist oder in den Akzentuierungen der Essener Produktion.
Premiere 25.01.2025 noch bis zum 22.03.2025
Besetzung:
Claire Devon: Betsy Horne
Paul Devon: Mandla Mndebele
Ashley Devon: Lisa Wittig
Kyle Harris: Aljoscha Lennert
Howard Bard: Heiko Trinsinger
Angela Rose: Deirdre Angenent
Thom: Tobias Greenhalgh
Dillon: Johannes Weisser
Coyote: Ivan Estegneev
Sina: Iva Seidl
Emily: Laura Kriese
Hortense: Marie-Helen Joël
Danica: Christina Clark
Vince: Robin Grunwald
Bram: Michael Kunze
Jess: Uta Schwarzkopf
Lee Ann: Astrid Wittkop/Stefanie Rodriguez
Mrs. Moreno: Cassandra Doyle
Theresa Alvarez: Idil Kutay
Opernchor des Aalto-Theaters
Essener Philharmoniker
Musikalische Leitung: Andrea Sanguineti
Inszenierung: Anna-Sophie Mahler
Bühne: Katrin Connan
Kostüme: Pascale Martin
Licht: Paul Grilj
Video: Georg Lendorff
Choreinstudierung: Klaas-Jan de Groot
Choreografie: Ivan Estegneev
Dramaturgie: Savina Kationi