"Bereit, ins Gefängnis zu gehen?" - Wie die Letzte Generation Klima-Aktivisten rekrutiert

Stand: 05.02.2023, 18:50 Uhr

Die Klimaschutzorganisation Letzte Generation sucht Mitstreiter, die bis zum Äußersten gehen - und bereit sind, für ihre Ziele sogar ins Gefängnis zu wandern. Die Sozialpsychologin Maria-Christina Nimmerfroh erklärt im WDR-Interview die Mechanismen der Rekrutierung.

Eine Aktion von vielen: Aktivisten der Klimaschutzorganisation "Letzte Generation" kleben sich auf der Fahrbahn einer Straße fest. Die Polizei schneidet sie los und nimmt sie fest. Den Betroffenen droht eine Anklage und sie landen, wie schon andere, vor Gericht, das sie womöglich ins Gefängnis schickt.

Für die Aktivisten ist das nicht etwa eine Niederlage. Im Gegenteil: "Ziel erreicht", sagt die Sozialpsychologin Maria-Christina Nimmerfroh von der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Die Diplom-Psychologin und ehemalige Journalistin forscht zur "Letzten Generation" und hat sich dafür bei Trainings der Gruppierung eingeschleust, um zu verstehen, wie sie Mitstreiter rekrutieren.

Hohe Emotionalisierung durch Inhaftierungen

Ziel Gefängnis? Für die Klimaschutzorganisation sei das die erstrebenswerte Konsequenz einer Aktion von Aktivisten, so Nimmerfroh. Die Organisation brauche die Inhaftierung von Aktivisten, um die hohe Emotionalisierung, die sie in der Bevölkerung erzeugen wolle, zu erreichen.

"Und deswegen hat gerade die Ersatzfreiheitsstrafe und die Präventivhaft eine irre hohe Bedeutung für sie", sagt Nimmerfroh. Es sei ja zu erleben, dass die Personen, die inhaftiert sind, mit Gesicht in Sozialen Medien gezeigt würden, auch mit Statements. Dies sei für die Letzte Generation elementar.

Die Organisation will mit aufsehenerregenden Aktionen - im vergangenen Herbst wurde etwa ein Ölgemälde von Claude Monet im Potsdamer Museum Barberini mit Kartoffelbrei beworfen - die Öffentlichkeit aufrütteln und auf die Dringlichkeit des Klimaschutzes aufmerksam machen.

Organisation sammelt sehr viele Infos über potentielle Mitstreiter

Wer mitmachen will bei der "Letzten Generation", wird schon auf der Website gefragt, wozu man bereit sei. Diejenigen, die bei "sich festnehmen lassen" und "ins Gefängnis gehen" Nein ankreuzen, werden noch einmal gefragt: Warum denn nicht? Was brauchst du denn?

Bei der Suche nach Mitstreitern sammelt die Organisation sehr viele Infos, teils sehr persönliche, die zeitweise im Internet abrufbar waren. Das zeigt eine Recherche von Investigativ-Journalisten: Laut "Welt am Sonntag" fanden sich in mehreren Excel-Tabellen persönliche Daten von mehr als 2.200 Menschen, die mit der Bewegung in Kontakt standen.

"Wir brauchten kein Passwort, wir mussten nicht unsere Mailadresse angeben, um Zugang zu erhalten", sagte WELT-Reporter Lennart Pfahler dem WDR. Er und seine Kollegen hätten sich "nicht als Personen ausgeben müssen, die wir nicht sind". Es sei ein Leichtes gewesen, an die Daten zu gelangen.

Kommentare über den Gesundheitszustand in Excel-Tabellen

Der WDR hat die "Letzte Generation" am Sonntag um eine Stellungnahme gebeten. Eine Antwort blieb aus. Gegenüber der Deutschen Presse-Agentur hatte Sprecherin Carla Hinrichs eingeräumt, dass es die Daten gebe. Sie stammten aus dem Sommer und Herbst. Die Daten seien über einen nicht-öffentlichen Link zugänglich gewesen. Nur Menschen in internen Chatgruppen hätten darauf zugreifen können.

In den Excel-Tabellen mit persönlichen Daten finden sich nach WELT-Recherchen etwa Kommentare über den Gesundheitszustand, den psychischen Zustand und auch über Zweifel, die man noch an der ganzen Aktion hat. Teilweise seien die Angaben auch mit Kommentaren versehen, wie vielleicht weiter mit den Personen umgegangen werden soll aus Sicht der "Letzten Generation", wie man die Leute vielleicht dazu bringen könne, sich doch zu beteiligen.

Wobei sich die Frage aufdrängt, warum die "Letzte Generation" überhaupt Informationen über den psychischen Zustand von potenziellen Mitgliedern sammelt. Laut Maria-Christina Nimmerfroh gehe es um das Maximal-Ziel, um eine mögliche Inhaftierung und die damit einhergehende Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit.

Von Anfang an eine möglichst enge Bindung herstellen

Der Druck, der im Zuge der Rekrutierung ausgeübt wird, fällt nach Einschätzung von Nimmerfroh individuell sehr unterschiedlich aus. In jedem Fall werde versucht, schon vom ersten Kontakt an eine möglichst enge Bindung herzustellen. Interessierte sollen persönliche Daten wie Emailadresse und Handynummer angeben, damit die Letzte Generation jederzeit nachhaken könne.

Jeder, der sich interessiert, bekomme einen persönlichen Ansprechpartner. Wer sich zum Mitmachen entschließt, könne davon ausgehen, dass für alles gesorgt wird, beispielsweise, dass die Fahrt zur Aktion organisiert ist. Es gebe auch psychologische Trainings, sagt Nimmerfroh - eigene Trainings für Achtsamkeit und mentale Gesundheit.

Mentale Gesundheit sei für die Organisation von zentraler Bedeutung. Nur wer seelisch gesund ist, könne beispielsweise die Einzelhaft auch aushalten. "Die psychologischen Trainings stellen sicher, dass die Aktionen überhaupt verübt werden können", so Nimmerfroh.

Maria-Christina Nimmerfroh ist FDP-Mitglied. Im vergangenen Jahr kandidierte sie als Bürgermeisterin in Griesheim bei Darmstadt. Für ihre Kandidatur erhielt sie auch von den Grünen Unterstützung. Dem Portal t-online sagte sie, dass ihre Mitgliedschaft keinen Einfluss auf ihre Analyse der "Letzten Generation" gehabt habe: "Ich war in der Politik immer nur ehrenamtlich tätig, also in meiner Freizeit. Meine Analysen und mein Interesse für Social Movements sind und waren nur rein beruflich."

Was sagen die Aktivistinnen und Aktivisten dazu?

Was an dieser Stelle fehlt, sind systematische Erkenntnisse zur Perspektive der Aktivistinnen und Aktivisten der Letzten Generation selbst. Sind sie sich der Folgen von Strafanzeigen und möglichen gesundheitlichen Folgen durchs Ankleben auf Straßen und Landebahnen bewusst? Es ist schwierig, das für diese als häufig heterogen beschriebene Gruppe insgesamt zu bewerten. Social-Media-Posts von und Interviews mit Mitgliedern legen es jedoch zumindest für einzelne Aktivistinnen und Aktivisten nahe.

"Juristische Konsequenzen für meinen Einsatz mit der 'Letzten Generation' - wie die Geldstrafe, die mir jetzt droht, oder Haftstrafen, die noch kommen mögen - sehe ich nicht als Strafen. Ich sehe sie als Kosten für den Versuch, aus diesem Albtraum zu entkommen", schreibt Aktivistin Jana Mestmäcker vor einigen Monaten in einem Gastbeitrag bei der Berliner Zeitung.

Mit dem "Albtraum" meint sie den "Albtraum der unwiederbringlichen Zerstörung unserer Lebensgrundlage", wie sie es nennt.

Psychische Belastungen - durch den Klimawandel selbst

Die Angst vor dem Klimawandel: Mit den psychischen Belastungen rund um Klimakrise und Klimaaktivismus beschäftigen sich Forschende weltweit. Der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) - oft als "Weltklimarat" bezeichnet - kommt im jüngsten Bericht 2022 zu dem Schluss, dass es immer mehr Evidenz für den Einfluss des Klimawandels auf die mentale Gesundheit gibt.

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Die Dringlichkeit und Ausweglosigkeit der Klimakrise stellt verschiedenen Studien zufolge eine hohe emotionale und psychische Belastung dar. Aktivistisches Engagement sei eine Möglichkeit, mit klimabezogenen Ängsten umzugehen, so die Autoren einer Studie, die im Auftrag von Umweltbundesamt und Umweltministerium 2022 veröffentlicht wurde.

Belastung durch das Engagement

Die Studie kommt zu dem Schluss, dass nicht nur die Klimakrise, sondern das Engagement selbst Belastung bedeuten kann, wie die qualitative Befragung von Aktivistinnen und Aktivisten verschiedener Gruppierungen zeigt. Die gemeinsame Arbeit in der Gruppe werde zwar überwiegend sehr positiv erlebt - man erkenne darin einen Sinn für sich selbst, sei Teil einer Gemeinschaft, komme ins Handeln. Aber Belastungen entstünden etwa durch Zeitnot, Überforderung, Frustration durch nicht-erreichte Ziele oder Anfeindungen von außen.

Auch problematische Gruppenprozesse innerhalb der Bewegungen werden in der Studie beschrieben - etwa Konflikte in der Bewegung, das Einigeln in einer Blase und Abschotten von Kontakten außerhalb der aktivistischen Gruppierung. Allerdings geht es nicht explizit um das Ausüben von Druck, wie Nimmerforth es nahelegt. Ob und wie der tatsächlich wahrgenommen wird, bleibt unklar.

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