Jetzt ist das alles belegt und damit kommen auch alte, längst verdrängte Geschichten wieder hoch. Ein Beispiel: der Missbrauchsverdacht an einer evangelischen Kita in Dülmen.
Es ist jetzt mehr als zehn Jahre her, dass Bennis* Eltern das erste Mal Verdacht schöpften: "Nicht in den Pipimann beißen", habe der Dreijährige damals gesagt. "Wie kommt er darauf?" fragt sich sein Vater bis heute.
Und warum hat Nico*, der ältere Bruder davon gesprochen, dass ihm ein Mann in der Kita "in den Popo gebohrt" habe?
Die beiden Jungen waren nicht die ersten, die von schrecklichen Vorfällen in der Kita sprachen. Mehrere Eltern hatten zuvor schon einen Missbrauchsverdacht geäußert und Anzeige erstattet. Am Ende ging es um neun Kinder.
Für zwei von ihnen gibt es rechtsmedizinische Haargutachten, die bestätigen, dass den Kindern Ko-Tropfen- ähnliche Medikamente gegeben wurden. Es konnte aber nicht nachgewiesen werden, dass die Medikamente in der Kita verabreicht wurden.
Die Staatsanwaltschaft ermittelte, stellte aber alle Verfahren ein. Die hauptbeschuldigte Erzieherin wurde umfassend rehabilitiert und wieder in der Kita eingesetzt.
Kirche von Aufarbeitung weit entfernt
Jetzt, zwölf Jahre später, kommt bei den Eltern alles wieder hoch. Denn wie in der wissenschaftlichen Studie anhand von vier untersuchten Fällen beschrieben, wurden auch im Dülmener Fall die Eltern und deren Kinder von den Verantwortlichen der Kirche nie befragt. Mit Wut in der Stimme erzählt er:
Und damit trifft auch in diesem Fall das zu, was die Kirchenstudie beschreibt: Die Kirche stellte sich vor allem vor ihre Mitarbeitenden, um die Institution zu schützen und "lagert die Verantwortung auf das Rechtssystem aus", sagt Professor Fabian Kessl.
In den von ihm untersuchten Fällen verließ sich die Kirche auf die Einschätzung der Staatsanwaltschaft und wertete sie als "Freispruch erster Klasse". Das Problem dabei: Kinderaussagen, die juristisch nur schwer zu verwerten sind, fallen oft durch das Raster.
Von eigener Aufarbeitung sei die Kirche weit entfernt, so Professor Kessel. Man könne allenfalls von einem "Ringen um Aufklärung" sprechen.
Mit Kindern oder Eltern wurde oft nicht gesprochen
Susanne Falcke war damals Gemeindepfarrerin in Dülmen. Heute ist sie Superintendentin im evangelischen Kirchenkreis Coesfeld/Borken/Steinfurt.
Sie räumt ein, dass sie damals ausschließlich Seelsorgerin für die Mitarbeiterinnen in der Kita war. Mit den Kindern oder den besorgten Eltern habe sie nie gesprochen. "Das wäre sonst zu einer Rollendiffusion gekommen", sagt sie.
Wer für die Betroffenen zuständig gewesen sei, weiß sie nicht. Das werde jetzt untersucht.
Das hat die evangelische Kirche jetzt zugesagt: Dass die alten, ungeklärten Fälle noch einmal auf den Tisch kommen. Um sie genau zu prüfen, soll - wie auch im Fall Dülmen - externe Hilfe dazu geholt werden.
Vormaliger Präses räumt schwere Fehler ein
Ulf Schlüter, der die vormalige Präses der evangelischen Kirche von Westfalen seit deren Rücktritt vertritt, räumt nach dem Gutachten schwere Fehler seiner Kirche im Umgang mit sexualisierter Gewalt an Kindern und auch Erwachsenen ein.
Die Eltern der Dülmener Kitakinder können es kaum glauben, wollen aber auch nicht locker lassen. Denn auch noch heute, sagen sie, litten ihre Kinder unter posttraumatischen Belastungssymptomen.
Inzwischen sind die Jungen Jugendliche, aber einige von ihnen bräuchten noch immer besondere Betreuung, hätten Angststörungen, Waschzwang, Panikattacken. "Für mich ist es immer noch schlimm, wie die Kirche mit uns umgegangen ist", sagt Lino* .
Jetzt gibt es immerhin einen Funken Hoffnung, dass der Fall noch einmal ganz neu aufgerollt wird.
*Namen von der Redaktion geändert
Unsere Quellen:
- WDR-Reporterin