UNICEF Studie zu sexueller Gewalt

Aktuelle Stunde 10.10.2024 29:53 Min. UT Verfügbar bis 10.10.2026 WDR Von Sebastian Galle

Sexuelle Gewalt gegen Kinder: Was tun, wenn man selbst betroffen war?

Stand: 12.10.2024, 06:00 Uhr

Der Bundestag hat am Freitag über mehr Schutz vor sexueller Gewalt gegen Kinder diskutiert. Gestärkt werden sollen auch Erwachsene, die als Kind Missbrauch erlebten. Wie viele sind es? Was soll das geplante Gesetz bewirken? Wo finden erwachsene Betroffene Hilfe? Fragen und Antworten.

Von Jörn SeidelJörn Seidel

Lena Jensen wurde im Alter von zwei bis sechs Jahren zusammen mit anderen Kindern sexuell missbraucht. Es geschah im engsten Umfeld, in einem Bereich, in dem sich Kinder eigentlich sicher fühlen sollen. "Wir bekamen Getränke, in denen Betäubungsmittel drin waren. Wir wurden auch körperlich misshandelt. Und es wurde alles gefilmt", erzählt sie dem WDR.

Influencerin Lena Jensen

Influencerin Lena Jensen erlebte als Kind jahrelang sexualisierte Gewalt.

Heute kann Jensen darüber offen sprechen. Als Influencerin bringt sie das Thema bei Instagram an die Öffentlichkeit, will damit anderen helfen. Und Hilfe brauchen viele. Denn das Problem der sexualisierten Gewalt gegen Kinder ist größer, als es die großen Schläge gegen Missbrauchsnetzwerke wie kürzlich in NRW erahnen lassen.

Hier unsere Antworten im Überblick:

Wie viele Erwachsene haben als Kind sexuellen Missbrauch selbst erlebt?

Dunkelfeldforschungen aus den vergangenen Jahren haben ergeben, dass jeder siebte bis achte Erwachsene in Deutschland sexuelle Gewalt in der Kindheit oder Jugend erlitten hat. Das berichtet die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, auf ihrer Website.

Außerdem heißt es dort: Es sei davon auszugehen, dass etwa ein bis zwei Schülerinnen oder Schüler in jeder Schulklasse von sexueller Gewalt betroffenen sind oder waren.

Erst am Donnerstag veröffentlichte das Kinderhilfswerk UNICEF eine Erhebung, wonach jedes achte Mädchen auf der Welt schon vor seinem 18. Lebensjahr eine Vergewaltigung oder sexuellen Missbrauch erlitten hat. Bei den Jungen ist es jeder elfte. Zählt man auch verbale oder Online-Gewalt mit, sind noch viel mehr betroffen.

Wo finden Erwachsene, die als Kind sexualisierte Gewalt erlebt haben, Hilfe?

Eine erste Anlaufstelle kann zum Beispiel das "Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch" sein. Das Angebot der Bundes-Missbrauchsbeauftragten hat die Nummer 0800-2255530, ist kostenfrei, anonym und mehrsprachig.

Das Hilfe-Telefon ist eine erste Anlaufstelle für alle Betroffenen von sexueller Gewalt, für Angehörige sowie Personen aus dem sozialen Umfeld von Kindern, für Fachkräfte und für alle Interessierten.

Wer eine Beratungsstelle in seiner Nähe sucht, findet dafür zum Beispiel eine Datenbank über das Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch - ebenfalls ein Angebot der Bundes-Missbrauchsbeauftragten: hilfe-portal-missbrauch.de

Wie kommt es, dass Betroffene zum Teil erst als Erwachsene Hilfe suchen, um über den Missbrauch in ihrer Kindheit sprechen?

Influcencerin Lena Jensen begann als Siebenjährige mit anderen darüber zu sprechen, dass sie in den Jahren zuvor sexuellen Missbrauch erlebt hatte. Währenddessen war sei sie dazu nicht in der Lage gewesen, wie sie erzählt.

Einige Betroffene tragen ihre Erfahrungen unausgesprochen jahrelang mit sich rum und öffnen sich erst als Erwachsene. Einen Grund dafür nennt Ulla Vollmann von der Fachstelle sexualisierte Gewalt der Caritas Gütersloh:

"Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, dass sie in ihrer Kindheit Missbrauchserfahrungen gemacht haben."  Ulla Vollmann, Caritas Gütersloh

Es sei ihnen vor allem dann nicht bewusst, wenn sie diese Erfahrungen als kleines Kind gemacht haben. "Dann sitzen die Gefühle zwar im Körper, aber man kann das Problem nicht richtig erkennen und benennen, weil die Sprache zum Zeitpunkt der Tat noch nicht entwickelt war."

Dabei sei die Spannbreite des Missbrauchs übrigens groß: "Sexualisierte Gewalt kann in ganz kleinen Handlungen stattfinden, aber auch Ausmaße annehmen, die man sich nicht vorstellen kann", so Vollmann.

Kindesmissbrauch: Wie kann ein neues Gesetz Kinder schützen?

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Inwiefern profitieren auch Kinder und Jugendliche davon, wenn Erwachsene ihre früheren Missbrauchserfahrungen aufarbeiten und offener darüber sprechen?

Beratung und Therapie helfen zunächst einmal den Betroffenen selbst. Aber wenn Erwachsene mit dem Erlebten in ihrer Kindheit offener umgingen, könnten Sie damit auch heutigen Kindern und Jugendlichen helfen, ist Vollmann überzeugt:

"Ich bin mir sicher: Wenn dieses Thema noch mehr in der Öffentlichkeit ankommen würde, dann wäre das ein großer Schutz vor weiterem Missbrauch." Ulla Vollmann, Caritas Gütersloh

Für mehr Schutz sei aber auch eine "völlig andere Sichtweise" erforderlich, sagt sie. "Eltern sagen ihren Kindern oft: Geh nicht mit fremden Menschen mit." Die Zahlen zeigten aber etwas anderes: "Sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen findet nur in den seltensten Fällen durch fremde Menschen statt. Stattdessen gibt es sexuellen Missbrauch vor allem in der Kernfamilie, in der Großfamilie und wo man Kindern sonst noch nah ist, zum Beispiel im Sportverein."

Und auch deshalb kann es Kindern helfen, wenn Erwachsene ihre eigenen Missbrauchserlebnisse in der Kindheit aufarbeiten: Manche werden sonst selbst zu Tätern.

Jemand, der sexualisierte Gewalt gegen Kinder ausübe, habe in der Regel "selbst in der Kindheit und Jugend Grenzverletzungen und Gewalt erlebt", sagt Vollmann von der Caritas. "Dass ein Mensch zum Täter wird, der als Kind gesund und mit Achtung vor anderen Menschen und einem angemessenen Verständnis von Regeln  groß geworden ist, das habe ich noch nicht erlebt. Solche Taten haben immer eine Vorgeschichte."

Über welches geplante Gesetz zum besserem Schutz vor sexuellem Kindesmissbrauch hat der Bundestag nun diskutiert?

Der Gesetzentwurf sieht unter anderem vor, dass das Amt der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs gesetzlich verankert wird. Es wurde 2010 von der Bundesregierung ins Leben gerufen.

Kerstin Claus, Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs UBSKM

Kerstin Claus, Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs

Mit einer gesetzlichen Verankerung wäre das Amt als Institution gesichert und müsste auch dauerhaft mit entsprechenden finanziellen Ressourcen ausgestattet werden, sagte die aktuelle Beauftragte Kerstin Claus am Freitag dem WDR.

Außerdem sieht der Gesetzentwurf vor, dass Menschen, die sexuelle Gewalt in der Kindheit erfahren haben, bei der Aufarbeitung ihrer Erfahrungen mehr Hilfe bekommen sollen. Zum Beispiel sollen in der Kinder- und Jugendhilfe die Akteneinsichts- und Auskunftsrechte verbessert werden.

Unsere Quellen:

  • WDR-Gespräch mit Ulla Vollmann von der Fachstelle sexualisierte Gewalt der Caritas Gütersloh
  • Nachrichtenagentur dpa
  • WDR-Gespräch mit der Influencerin Lena Jensen
  • Entwurf "Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen"
  • WDR-Gespräch mit Kerstin Claus, Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, und Informationen von ihrer Website
  • UNICEF-Erhebung zu weltweitem sexuellem Missbrauch

Über die UNICEF-Erhebung berichteten wir am 10.10.2024 auch in der Aktuellen Stunde im WDR-Fernsehen und über die Bundestagsdebatte am 11.10.2024 in den Hörfunknachrichten, unter anderem bei WDR 5.