Rammstein in Gelsenkirchen: Was wurde aus den Vorwürfen gegen Till Lindemann?

Gerade sind die "Swiftkirchen"-Ortsschilder abmontiert, die 200.000 Taylor-Swift-Fans aus Gelsenkirchen abgereist - da steht das nächste Mega-Musikevent in der Ruhrgebietsstadt an: Am Freitag startet die Band Rammstein einen fünftägigen Konzert-Marathon in der Veltins-Arena auf Schalke. Alle fünf Konzerte sind so gut wie ausverkauft.

Dabei sah es vor gut einem Jahr kurz so aus, als könnte ein Missbrauchsskandal der international gefeierten Band das Aus bescheren. Stattdessen gibt es auf der "Europe Stadium Tour 2024" jetzt bei allen Konzerten Awareness-Mitarbeiter, die "proaktiv durch das Publikum" laufen. An lokalen Ständen finden hilfesuchende Fans Beratung. Das teilte der Konzertveranstalter MTC dem WDR auf Anfrage mit.

Vorwürfe um "Row Zero" bei Rammstein-Konzerten

In einer Titelgeschichte des Magazins "Der Spiegel" im Juni 2023 hatten mehrere Frauen von mutmaßlichen sexuellen Übergriffen durch den Sänger der Band, Till Lindemann, berichtet. Einige vermuteten, von Lindemann unter Drogen gesetzt und dann vergewaltigt worden zu sein.

In "Row Zero", einem Podcast von NDR und "Süddeutscher Zeitung", beschreiben weitere Frauen, wie sie von Lindemann mutmaßlich sexuell belästigt oder vergewaltigt worden seien. Demnach habe der Sänger gezielt weibliche Fans für Sex während und nach seiner Shows rekrutieren lassen.

Unter anderem erzählt die junge Irin Shelby Lynn unter Tränen von ihren Erlebnissen, die sie als Konzertbesucherin 2023 in einer Kammer unter der Bühne erlebt habe. An die After-Show-Party, zu der sie dann eingeladen worden sei, habe sie später kaum eine Erinnerung gehabt. Sie sei mit großen blauen Flecken am Körper aufgewacht. Lynn glaubt, unter betäubende Drogen gesetzt worden zu sein.

"Stark geblutet, komplett neben der Spur"

Auch Rammstein-Fan Cynthia berichtet davon, wie Sänger Till Lindemann sie vor einem Konzert in Hannover in einen abgeschlossenen Raum mitgenommen habe. Entsetzt habe sie dort festgestellt, dass Lindemann Sex mit ihr wollte.

Sie sei in diesem Moment "wie in einer Schockstarre" gewesen, berichtet Cynthia in dem Podcast: "Ich konnte nichts machen, war wie ein Stück Fleisch, ein Objekt". Sie habe nicht nein gesagt oder sich gewehrt, nur "gewartet, bis es vorbei ist". Danach habe sie sehr stark geblutet, sei "komplett neben der Spur" gewesen.

Sämtlichen Berichten zufolge war zu der Zeit eine Rammstein-Mitarbeiterin offenbar eigens dafür zuständig, vor Konzerten junge Frauen aus der Fan-Community auszusuchen, die während oder nach der Show mit Till Lindemann in Kontakt gebracht werden sollten.

Anwalt ging gegen Medien vor

Der Rammstein-Sänger wird von der prominenten Berliner Medienkanzlei Schertz Bergmann vertreten. Anwalt Simon Bergmann bewirkte, dass der "Spiegel" nach einer Verfügung des Landgerichts Hamburg nicht mehr den Verdacht erwecken darf, Lindemann habe junge Frauen mit K.o.-Tropfen, Drogen oder Alkohol betäubt, um Sex zu erzwingen. Der Sänger ging auch gegen andere Medien vor, der Podcast "Row Zero" musste zeitweise offline gehen, ist aber nun in einer veränderten Version wieder abrufbar.

Dennoch ermittelte die Staatsanwaltschaft Berlin gegen Lindemann wegen des "Verdachts der Begehung von Sexualdelikten wie auch Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz". Doch im August 2023 wurde das Ermittlungsverfahren eingestellt. Es gebe keine Beweise dafür, dass Lindemann sexuelle Handlungen an Frauen gegen deren Willen vorgenommen habe.

Staatsanwalt: Nicht gelungen, Zeugen zu finden

Im Podcast kommt der Sprecher der Staatsanwaltschaft zu Wort. Bei Sexualstraftaten hätten Opfer "ohnehin immer eine große Hürde zu überwinden, überhaupt Anzeige zu erstatten", sagt er. Auch hier sei es nicht gelungen, zu den anonymisierte Zeuginnen, die in Medienberichten zitiert wurden, Kontakt zu bekommen.

Lindemann-Anwalt Simon Berg sagt: "In Fällen von #Metoo steht meistens Aussage gegen Aussage." Vorschnelle mediale Berichterstattung habe für die Beschuldigten oft eine lebenslange Stigmatisierung zur Folge. Der NDR-Bericht habe Lindemanns Ruf beschädigt.

Das Rekrutierungssystem während der Rammstein-Konzerte streitet der Anwalt dagegen nicht ab. Auch er "möchte es nicht begrüßen", sagt Berg, besteht aber darauf, dass es sich "in aller Kenntnis" um Sex gehandelt habe, dem die Frauen zugestimmt hätten.

Wie geht es den betroffenen Frauen heute?

Ihr Leben habe sich im vergangenen Jahr komplett verändert, sagte die Irin Shelby Lynn, als die NDR-Journalisten sie im Februar 2024 besuchten. Hunderte Frauen hätten sich seitdem bei ihr gemeldet, die ebenfalls von mutmaßlichen Übergriffen Lindemanns berichteten. Monatelang habe sie Depressionen gehabt, sagt Lynn.

Lindemann selber hat sich bislang nur über seinen Anwalt zu den Vorwürfen geäußert. Vom Rest der Band äußerte sich nur Schlagzeuger Christoph Schneider. Er schrieb schon im Juni 2023 auf Instagram, es seien "anscheinend Dinge passiert, die - wenn auch rechtlich ok - ich persönlich nicht in Ordnung finde".

Anwalt: Neue Erkenntnisse über Shelby Lynn

Pünktlich zum Tour-Start veröffentlichte die Kanzlei Schertz Bergmann am 15. Mai 2024 eine Pressemitteilung mit "neuen Erkenntnissen" zu den Vorwürfen der Irin Shelby Lynn, die den Skandal um die "Row Zero" ins Rollen gebracht hatte. Man habe nun Einblick in die Unterlagen aus dem Ermittlungsverfahren der Polizei in Vilnius bekommen - dort, wo Lynn nach einem Rammstein-Konzert Anzeige erstattet hatte.

Daraus gehe hervor, dass Lynn vor oder während des Rammstein-Konzerts"erhebliche Mengen Alkohol und zudem Cannabis zu sich genommen" habe. Das spreche gegen die von ihr erhobene Anschuldigung, ihr seien K.o.-Tropfen ins Getränk gemischt worden.

Welche Folgen hatte der Skandal für Rammstein?

Geschadet hat der Skandal Lindemann und seiner Band offenbar kaum. Die "Europe Stadium Tour 2024" startete im Mai mit ausverkauften Stadien, allein in Dresden kamen an vier Tagen 200.000 Fans - und zahlten bis zu 150 Euro pro Ticket.

Auf ihrem Instagram-Account mit 3,5 Millionen Followern wird die Band frenetisch gefeiert. Die berüchtigte "Row Zero", in der sich vor dem Skandal handverlesene weibliche Fans aufhielten, um von dort aus mutmaßlich in die Separées im Backstagebereich geleitet zu werden, ist nach Medienberichten nun leer.

Kurz nach dem Skandal hatte Rammstein eine zeitlang den Song "Pussy" aus dem Programm genommen - jetzt singt Lindemann ihn wieder: "Schönes Fräulein, Lust auf mehr? Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr", heißt es darin. Auch die "Peniskanone", mit der Lindemann weißen Schaum in die Menge spritzt, ist offenbar wieder am Start.

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