Der Kampf gegen Armut in Deutschland ist beschämend | MEINUNG

Stand: 23.07.2024, 06:02 Uhr

Neben dem Bürgergeld-Streit geht ein wichtiges Thema unter, das Zukunftschancen und Gesundheit von Millionen Menschen betrifft.

Von Lars Fuchs

Wir sehen sie meistens nicht. Die ganz alltägliche Armut unserer Mitmenschen. Sie ist unsichtbar.

Denn wer kein Geld hat, der geht nicht ins Café, der geht nicht ins Kino, der hat andere Sorgen. Kolumnist Lars Fuchs
Kolumnist Lars Fuchs | Bildquelle: WDR / Lars Fuchs

Armut ist tückisch, denn sie ist mit Scham verbunden. Da hilft es wenig, dass beim Thema Sozialstaat seit Monaten vor allem über Faulheit und über Härte gesprochen wird. Genauer gesagt über die Frage, wie es sich verhindern lässt, dass Leistungen des Bürgergelds ausgenutzt werden. Die Frage ist berechtigt, doch in dieser Lautstärke und Vehemenz geht die prekäre Lebenssituation von Millionen Menschen unter.

Armut wird häufig von Generation zu Generation weitergegeben

Diabetes, Bronchitis, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Lungen- oder Leberkrebs sind bei Menschen in Armut häufiger als beim Rest der Bevölkerung. Weil sie sich weniger leisten können, wird schlechteres Essen gekauft. Es ist kein Geld für Ausflüge da oder für die Marke, die alle tragen. Arme Menschen fühlen sich oft stigmatisiert und isoliert.

Armut erzeugt Stress. Oft schämen sich arme Kinder zum Beispiel, Freunde nach Hause einzuladen, sie haben teils sogar einen geringeren Wortschatz und schneiden in der Schule schlechter ab. Armut bestimmt nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft.

Eine Million Kinder leben laut Unicef in Deutschland dauerhaft in Armut. Und die Zahlen für die gesamte Bevölkerung sehen nicht besser aus. Im vergangenen Jahr waren laut Statistischem Bundesamt mehr als 20 Prozent der Bevölkerung von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. In absoluten Zahlen sind das 17,7 Millionen Menschen. Beim Thema Bürgergeld geht es übrigens um 1,7 Millionen sogenannte arbeitslose erwerbsfähige Bürgergeldempfänger.

Ja, Zahlenvergleiche sind so eine Sache. Aber klar ist: Wer keine Lobby hat, der kommt in der öffentlichen Debatte nicht vor. Auch ein Problem, das Armut mit sich bringt: Sie wird nicht gehört.

Die Kindergrundsicherung ist gescheitert

Die Ampel hat für Kinder eine Lösungsidee: Die Kindergrundsicherung. Weil viele Familien nicht wissen, welche Sozialleistungen ihnen zustehen, sollten sie vom Staat automatisch erfahren, was sie beantragen können. Familien mit wenig Geld sollten so unkompliziert und unbürokratisch mehr bekommen und so die Chance auf einen Weg aus der Armut haben.

Sollten - denn die Kindergrundsicherung steckt seit Monaten fest. Es geht um technische Fragen, zum Beispiel darum wie viele Beamte es für das Vorhaben braucht. Die Bekämpfung von Kinderarmut, ein Thema, von dem sich niemand guten Gewissens abwenden kann, wird von der Ampel zerredet. Ob sie kommt, wie sie konkret aussieht: ungewiss. Beschämend für eine Koalition, in der das "S" beim größten Koalitionspartner SPD für "Sozial" stehen soll und in der die Grünen landauf landab Werbung für sich mit der Kindergrundsicherung gemacht haben.

Da hilft es nicht, dass ab dem kommenden Jahr nach dem Prinzip Gießkanne fünf bis zehn Euro mehr pro Kind ausgezahlt werden. Die sind besser als nichts, aber von der Inflation schon vor dem Gang ins Geschäft dezimiert.

Gegen Armut helfen höhere Sozialleistungen, helfen höhere Mindestlöhne da sind sich Forscher sicher. Mindestens genauso wichtig ist aber ein einfacher Zugang zu Bildung, um einen eigenen Weg aus der Armut zu finden. Doch in Deutschland hängen ökonomische Herkunft und Bildungserfolg und damit das eigene Einkommen eng zusammen.

Wer eine Ausbildung anfängt und aus einem Elternhaus mit einem hohen Einkommen kommt, beendet sie zu 73 Prozent, in einem ärmeren Elternhaus im Schnitt zu 63 Prozent. Wohin man auch schaut, das Muster bleibt gleich: Von 100 Nicht-Akademiker-Kindern beenden im Schnitt nur 15 die Uni, bei Akademikern sind es 63.

Hier helfen übrigens auch Stipendien nicht unbedingt weiter. Denn um die zu bekommen, braucht man häufig ein Ehrenamt im Lebenslauf. Und wer kaum Geld hat, sucht sich meist wohl eher einen Nebenjob. Kolumnist Lars Fuchs

Seit zehn Jahren, seit einem Jahrzehnt, ist die Kinderarmut in Deutschland unverändert hoch. Anfangen bei bezahlbaren Schulmaterialien bis hin zu früheren Förderungen. Es braucht eine Vielzahl von Maßnahmen, um das zu ändern. Denn wie es ist, so darf es nicht bleiben.

Wie stehen Sie zur Kindergrundsicherung? Braucht das Thema mehr Aufmerksamkeit? Lassen Sie uns darüber diskutieren! In den Kommentaren auf WDR.de oder auf Social Media.

Kommentare zum Thema

  • Moritz 23.07.2024, 09:49 Uhr

    Sorry, lieber WDR, auf der einen Seite "Geld mit der Gießkanne" kritisieren und auf der anderen Seite "Geld mit der Gießkanne" für bestimmte Gruppen fordern ist schon etwas irritierend. Im TV wird immer gesagt, dass die Eltern das niemals für sich ausgeben würden weil sie ihre Kinder lieben und für diese aufopfern. Diese Kinder sind dann aber nicht die, die scheitern! Sondern die Kinder, die von ihren Eltern keine Struktur bekommen! Und diesen Kindern kann man am besten helfen durch bessere Einrichtungen und Vereine! Aber da haben die Grünen was dagegen - weil das würde ja auch "den Reichen" zu Gute kommen. Und das darf natürlich nicht sein! Das Kinder unabhängig von ihrer Herkunft zusammen kommen und gemeinsam die Zukunft lernen. Ganz schaurige Vorstellung! Lieber Geld verteilen! Da kann man echt verzweifeln bei so viel Verbohrheit... Übrigens fordert die FDP das Geld lieber in Kitas etc zu stecken. Finde ich extrem sinnvoll!

  • Carolin 23.07.2024, 09:48 Uhr

    Es ist traurig, wie sich die Gesellschaft entwickelt und wie schnell die Menschen aggressiv werden. Da mein Mann immer viel Unterhalt an die ExFrau abgeben muss, sind wir leider trotz Berufstätigkeit beider auch auf den Kinderzuschlag angewiesen. Die ExFrau arbeitet nicht und hat ihren Mann nicht geheiratet, weil sie nicht auf Unterhalt verzichten wollte. Ich wurde nie gefragt und musste immer arbeiten gehen für meine Kinder. Das ist sehr ungerecht. An den Alleinerziehenden Müttern sollte mal gearbeitet werden. Familien sterben aus und auch ihr Zusammenhalt, generationsübergreifend.

  • Lea N. 23.07.2024, 09:44 Uhr

    Antwort an R. Schulz: Wie bitte begründen und beweisen Sie Ihre Behauptung? Lea N.