Wladimir Putin während einer Fernsehansprache, in der er die Teilmobilmachung verkündetete (21.09.2022)

"Das ist kein Bluff": Will Putin wirklich Atomwaffen einsetzen?

Stand: 22.09.2022, 15:01 Uhr

Die gestrige Rede von Russlands Präsident Putin verunsichert und besorgt viele Menschen. Wie ernstzunehmend ist seine Drohung, im Extremfall auch mit Atomwaffen zuzuschlagen? Und wie lange wird der Krieg noch dauern?

Dass Russlands Präsident Wladimir Putin laut über den Einsatz von Atomwaffen spricht, ist nichts Neues. Schon mehrmals seit dem Beginn des Überfalls auf die Ukraine hat er das russische Atom-Arsenal erwähnt: Russland besitzt über 6.000 atomare Sprengköpfe und ist die größte Atommacht der Welt. Doch die Rede, die er gestern aus Anlass der Teilmobilmachung in Russland gehalten hat, hatte für viele Zuhörer eine neue Dimension.

Putin sprach von einer "nuklearen Epressung" des Westens und kündigte an, "natürlich alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um Russland zu schützen. Das ist kein Bluff."

Scholz sieht "Akt der Verzweiflung" bei Putin

Eine Aussage, die ihm viele Menschen abnehmen. "Das macht mir sehr viele Sorgen", sagte Gabriele Kroll aus Dortmund. "Wo führt das alles hin?" Luzia Jökel aus Dortmund befürchtet, dass sich der Krieg ausweitet: "Ich habe Angst, dass meine Enkel und Urenkel etwas erleben, was sie nicht erleben sollten", sagte sie dem WDR. "Der Mann ist verrückt" - so ihr Urteil über Putin.

Westliche Politiker verurteilten Putins Rhetorik sowie die Teilmobilmachung scharf. US-Präsident Joe Biden nannte die russischen Drohgebärden verantwortungslos. "Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie geführt werden", sagte er. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach von einem "Akt der Verzweiflung".

Dieses Element beinhaltet Daten von Twitter. Sie können die Einbettung auf unserer Datenschutzseite deaktivieren.

Mit dem Rücken zur Wand - und dem Finger am Atomknopf?

Allerdings stellt sich die Frage: Könnte Putin, der immer mehr zu irrationalen Haltungen und Argumenten greift, nicht aus Verzweiflung heraus erst recht einen Atomschlag erwägen? Hat der für ihn negative Kriegsverlauf diese Möglichkeit nicht wahrscheinlicher gemacht?

Die Osteuropa-Expertin Susanne Schattenberg von der Universität Bremen glaubt weiterhin daran, dass Putins Atom-Drohungen nur ein Bluff und Teil seiner Strategie seien. Putin stehe mit dem Rücken zur Wand und versuche, "ein möglichst großes Drohszenario aufzubauen", sagte sie dem WDR. Das Ziel sei es, dadurch den Westen von weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine abzuhalten. An einen Einsatz von Atomwaffen glaubt sie nicht.

Dieses Element beinhaltet Daten von Twitter. Sie können die Einbettung auf unserer Datenschutzseite deaktivieren.

Experte: "Atom-Drohungen gab es schon viele, passiert ist nichts"

Auch der Politologe Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik sieht "keinen Anlass zu vermuten, dass jetzt eine nukleare Eskalation droht". Russische Drohungen mit Nuklearschlägen habe es im Ukraine-Krieg mehrfach gegeben, letztlich sei nichts passiert, sagte er dem Bayerischen Rundfunk.

Gwendolyn Sasse vom Zentrum für Osteuropa-Studien will im Zusammenhang mit einem möglichen russischen Atomangriff hingegen nicht von einem "Restrisiko" sprechen. Dieser Begriff sei verharmlosend, sagte sie im ZDF: "Dieses Risiko gibt es seit Beginn der Invasion im Februar." In der Substanz habe sich an diesem Risiko nichts verändert, wohl aber in Putins Argumentation.

Weitet sich der Krieg am Boden und in der Luft nach Westen aus?

Neben dem Einsatz von Atomwaffen sind auch konventionelle Angriffe auf den Westen ein Schreckensszenario, das immer wieder diskutiert wird. Der Sicherheitsexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik schätzt die Gefahr, dass Putin versucht, den Krieg weiter in den Westen auszuweiten, als sehr gering ein - auch nach der angekündigten Teilmobilmachung. Das sei schon "militärisch nicht möglich", weil Russland dafür viel zu wenige Soldaten und Reserven habe, sagte er im WDR.

Wie lange wird dieser Krieg noch dauern?

Russlands Teilmobilisierung dürfte den Krieg verlängern - diese Einschätzung teilen die meisten Beobacherinnen und Beobachter in Politik und Wissenschaft. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj geht davon aus, dass Russland im Winter seine Truppen in der Ukraine für eine neue Offensive rüsten oder zumindest Abwehranlagen einrichten wolle. Politikwissenschaftlerin Sasse schätzt, dass einige Zeit vergehen wird, bis die russische Mobilmachung an der Front spürbar wird. Sie sieht diese als "Vorbereitung auf das Ende des Jahres oder das kommende Frühjahr".

Sicherheitsexperte Mölling prognostiziert für die kommenden Monaten wenig Bewegung im Ukraine-Krieg. Aufgrund der beginnenden schlechten Witterung würden die Konflikte in wenigen Wochen "eine gewisse Form von Pause machen", sagte er. Im Grunde plane Putin durch die Mobilisierung, "die Lücken zu füllen für die Frühjahrsoffensive".

Auch Roderich Kiesewetter, der sich in der CDU-Bundestagsfraktion mit Verteidigungsfragen beschäftigt, sieht den Krieg aufgrund der beginnenden "Schlammzeit" kurz vor einem temporären Stillstand, sagte er der "Augsburger Allgemeinen". Er forderte die Bundesregierung erneut zur Lieferung von Kampfpanzern auf, um eine ukrainische Offensive im Frühjahr 2023 vorzubereiten.