Einsame Bus-Haltestelle

Preis ist nicht alles: Wie gut ist NRW angebunden?

Stand: 05.10.2022, 05:52 Uhr

Wer auf dem Land lebt, ist meist nicht gut an Bus und Bahn angebunden. Aber: Es gibt auch Ausnahmen. Von welchen Konzepten ganz NRW lernen kann - und wie man mit dem WDR-Reichweiten-Checker selbst auf die Suche geht.

Von Rainer StriewskiRainer Striewski und Till Hafermann und Jannes Höke (Auswertung)

Die Bilanz klingt beeindruckend: 52 Millionen verkaufte Tickets und geschätzt 1,8 Millionen Tonnen CO2-Einsparung. Das 9-Euro-Ticket war ein großer Erfolg - so groß, dass Nachfolgemodelle nicht nur diskutiert, sondern bereits umgesetzt werden. So bieten die Verkehrsverbünde in NRW aktuell Aktionen für ihre Abo-Ticket-Nutzer an: An Wochenenden im Oktober und in den gesamten Herbstferien können sie ohne zusätzliche Kosten mit Bussen und Bahnen durch ganz NRW fahren.

So sind öffentliche Verkehrsmittel in NRW aufgestellt

Aber: Der Preis ist nicht alles, was auch zählt ist die Anbindung. Laut Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) konnten oder wollten etwa viele Menschen auf dem Land das 9-Euro-Ticket gar nicht verwenden.

Dr.-Ing. Bastian Kogel vom Verkehrswissenschaftlichen Institut der RWTH Aachen

Dr. Bastian Kogel: "Rheinachse und Ruhrgebiet gut angebunden"

Ist das Angebot wirklich so schlecht? Darauf gibt es in NRW die eindeutige Antwort: Es kommt drauf an. "Die Rheinachse und das Ruhrgebiet sind mit der wahrscheinlich höchsten Zugdichte deutschlandweit gut angebunden", weiß Dr. Bastian Kogel vom Verkehrswissenschaftlichen Institut der RWTH Aachen.

Anders sieht’s im Gegensatz dazu im Münsterland aus, im Siegerland, Sauerland oder auch der Eifel. Dort entstehen zwar gerade auch mit Unterstützung des Landes Schnellbuslinien:

"Aber wer nicht genau an diesen Achsen lebt, ist dann doch wieder auf den Pkw angewiesen." Verkehrswissenschaftler Bastian Kogel

Dass auch die Nähe zu touristischen Zielen kein Garant ist für gute Anbindung, zeigt etwa die Haltestelle "Nideggen Schmidt Kapelle" nahe des Rursees. Der WDR-Reichweiten-Checker zeigt: zwischen 6 und 20 Uhr gibt es hier im Schnitt 0,3 Abfahrten pro Stunde - an mehr als 94 % aller Haltestellen in NRW gibt es mehr Abfahrten als in der Nähe des beliebten Rursees.

WDR-Reichweiten-Checker: So schaut’s vor Ort aus

Wir wollten es genau wissen und haben Daten zu allen knapp 47.000 Haltestellen in NRW ausgewertet. Herausgekommen ist der WDR-Reichweiten-Checker. Die interaktive Anwendung zeigt, wie viele Abfahrten mit Bus, Bahn und Co an den Haltestellen möglich sind, oder kurz: wie die einzelne Haltestelle angebunden ist und wie diese im NRW-Vergleich abschneidet. Auf einer Karte wird zudem angezeigt, wie weit man innerhalb von einer Stunde kommt - mit und ohne umsteigen. So kann jeder für seine Heimat-Haltestelle selbst auf die Suche gehen. Das Tool ist unter folgendem Link erreichbar:

Was bedeutet "gute Anbindung" in NRW?

Um die Frage nach der guten Anbindung für Menschen in NRW umfassend beantworten zu können, reicht die reine Anzahl von Abfahrten an der nächstgelegenen Haltestelle noch nicht ganz aus. Denn was bedeutet überhaupt eine "gute Anbindung"?

Um das besser einordnen zu können, werden Orte von Verkehrsexperten in drei Kategorien eingeteilt: Oberzentrum, Mittelzentrum und Unter- bzw. Grundzentrum. Die Bedeutung eines Ortes bestimmt sich dabei nach seiner Infrastruktur im Vergleich zur näheren Umgebung, nicht unbedingt nach seiner Größe.

Zu den typischen Einrichtungen in Grundzentren zählen etwa Grundschulen, Banken und Post, Supermärkte oder Tankstellen. Das Angebot in Mittelzentren ist dagegen umfassender, allerdings nicht so umfassend wie das Angebot in Oberzentren. Hier befinden sich etwa auch Universitäten oder obere Landesbehörden.

Deutliche Unterschiede in den Regionen

Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) hat errechnet: Bundesweit erreichen rund 82 Prozent der Bevölkerung das nächste Mittel- oder Oberzentrum ("zentrale Orte") innerhalb von 30 Minuten Reisezeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Wer es schneller schafft, ist besser angebunden, wer länger braucht, entsprechend schlechter. Für NRW zeigt sich so deutlich, wo die Menschen in NRW schlecht mit öffentlichen Verkehrsmitteln angebunden sind:

Reisezeit ins Stadtzentrum des nächsten Mittel- oder Oberzentrums in Minuten, von unter 10 Minuten (dunkelblau) bis über 50 Minuten (dunkelrot)

Reisezeit ins Stadtzentrum des nächsten Mittel- oder Oberzentrums in Minuten, von unter 10 Minuten (dunkelblau) bis über 50 Minuten (dunkelrot)

So benötigen etwa die Menschen im Norden NRWs rund um Münster teilweise 40 bis über 50 Minuten (rötlich in der Karte), um mit dem Öffentlichen Verkehr ins nächste Ober- oder Mittelzentrum zu fahren. Ähnlich sieht es rund um Schloß Holte-Stukenbrock oder nördlich von Gütersloh aus. Auch im Süden NRWs - etwa in Blankenheim oder Nideggen - werden nach Angaben des BBSR 50 und mehr Minuten benötigt, um "zentrale Orte" zu erreichen.

Wie kann man den öffentlichen Nahverkehr besser aufstellen?

"Die Infrastruktur der Bahn muss als Rückgrat des öffentlichen Nahverkehrs ausgebaut werden", erklärt Bastian Kogel von der RWTH Aachen - und das nicht nur in den Zentren. Gerade in weniger dicht besiedelten Gebieten müsse der Schienenverkehr in der Fläche ausgebaut werden. In der Region Aachen funktioniere das schon gut: Dort wurde etwa die sogenannte Ringbahn reaktiviert. Sie verbindet den Stolberger Hauptbahnhof, Alsdorf und Eschweiler mit Herzogenrath. Die Strecke umfährt damit das Oberzentrum Aachen in einem weiten Bogen und bildet zusammen mit anderen Strecken einen Ring um die Stadt.

Direkt ins Zentrum Aachen soll hingegen in Zukunft eine neue Strecke führen: die Regiotram. Erste Ideen dazu wurden kürzlich vorgestellt, entschieden ist das Projekt aber noch nicht. Fällt die Entscheidung positiv aus, soll die erste Bahn in rund zehn Jahren rollen.

Aber auch überregionale Projekte müssen nach Ansicht des Verkehrswissenschaftlers Kogel deutlich ausgebaut werden. Hier wäre NRW mit der Planung des Rhein-Ruhr-Expresses zwischen Köln und Dortmund bereits auf gutem Weg.

Busse ohne festen Linienweg

Grundsätzlich müssen die Angebote nach Ansicht der Verkehrswissenschaftler flexibler und digitaler werden, etwa durch smarte Bedienformen, wie sie beispielsweise in Aachen schon praktiziert werden. Hier sind Leih-Fahrräder, Autos, E-Scooter oder klassisch das Busticket über eine einzige App buchbar.

Zudem bieten die örtlichen Verkehrsbetriebe ASEAG in einigen Gebieten einen sogenannten "NetLiner" an, einen Personentransporter ohne festen Fahrplan und Linienweg. Haltepunkte ergeben sich jeweils flexibel aus den Wünschen der Fahrgäste, die vorher aber angeben werden müssen, damit die Route geplant werden kann.

Bürgerbusse auf ehrenamtlicher Basis

Ähnlich funktionieren die Bürgerbusse, die in vielen Regionen NRWs den Nahverkehr ergänzen. Sie können sowohl im Linienverkehr als auch nach Bedarf als Rufbus betrieben werden. Und das oft auf ehrenamtlicher Basis, betrieben werden die Bürgerbusse in der Regel von Vereinen vor Ort. Laut Dachverband "Pro Bürgerbus NRW" hatten vor Corona pro Jahr etwa 1,23 Millionen Menschen in NRW Bürgerbusse genutzt.

Aber nicht nur Busse "auf Abruf", auch Taxen können etwa durch neue digitale Lösungen verstärkt in den Nahverkehr eingebunden werden: Dabei kann das Taxi zwar von einem Fahrgast bestellt werden, auf dem Weg zum Zielort aber auch noch weitere Fahrgäste aufnehmen, die eine ähnliche Route zu ihrem Ziel haben. "Ridepooling" nennt sich diese Kombination von klassischen Taxidiensten und Fahrgemeinschaft.

Wichtig: Pünktlichkeit und einfache Tarife

Ob Schienenverkehr, Bürgerbus oder On-Demand-Verkehr: Das beste Konzept kann nicht funktionieren, wenn es von den Fahrgästen nicht angenommen wird. "Der Nutzer muss positive Erfahrungen machen, um auch langfristig zum ÖPNV zu wandern", weiß Verkehrswissenschaftler Bastian Kogel. Deshalb wäre neben der Pünktlichkeit des Systems auch eine einfache Nutzung elementar:

"Gerade das 9-Euro-Ticket hat sehr gut gezeigt, dass neben dem Preis entscheidend ist, dass man einfach Zugang zum System bekommt." Verkehrswissenschaftler Bastian Kogel

Dazu zähle auch eine einfache und gute Information über Tarife und Preise.

Fahrten per App buchen und abrechnen

Und gerade da ist nach Ansicht des Verkehrswissenschaftlers noch viel Luft nach oben vorhanden. "Die Apps sind im Moment noch sehr auf einzelne Verkehrsverbünde zugeschnitten", so Kogel. Das System müsse aber überregional funktionieren, wie etwa beim 9-Euro-Ticket.

Der neue eTarif "eezy.nrw" könne hier nach Ansicht des Wissenschaftlers als guter Ansatz genannt werden. Seit Ende 2021 können Fahrgäste elektronisch per App an den Haltestellen ein- und auschecken, der Fahrpreis wird dann am Ende der Fahrt automatisch berechnet.

Allerdings sollte laut Verkehrsexperten idealerweise der komplette Reiseweg über eine App buchbar sein, also neben dem ÖPNV auch weitere Verkehrsmittel wie E-Scooter und Car-Sharing-Angebote. Einige Modellprojekte dazu werden in NRW bereits erprobt, wie etwa der erwähnte "NetLiner" in Aachen.

Land fördert Vernetzung von Angeboten

Landesumweltminister Oliver Krischer

Verkehrsminister Krischer: "Noch viel zu viele Apps"

Diese "Mobility-as-a-Service" (MaaS) genannten Projekte hat das Land NRW bereits mit knapp 4,5 Millionen Euro gefördert. Jetzt stellt Verkehrsminister Oliver Krischer (Grüne) noch einmal 5 Millionen Euro zur Verfügung. "Wir müssen immer noch viel zu viele Apps installieren, um uns durch das große Nahverkehrsangebot zu navigieren", so Krischer. Mit dem Geld soll die Entwicklung von plattformübergreifenden Projekten für nahtlose Mobilität gefördert werden.

Bis zum Ziel einer einfachen App für alle Angebote in NRW ist es aber - nicht nur für die Menschen auf dem Land - noch ein weiter Weg.

Über dieses Thema berichten wir auch am 5. Oktober im WDR 5 Morgenecho und in der Aktuellen Stunde im WDR Fernsehen.

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