"Männer!" - das war der schlichte Kommentar der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel im Spiegel-Interview zum Ampel-Aus. Am Dienstagabend stellt die Ex-Kanzlerin nun ihre lang erwarteten Memoiren vor und blickt auf ihre politische Karriere zurück. Auf gut 700 Seiten schaut sie zusammen mit ihrer langjährigen politischen Beraterin Beate Baumann auch auf ihr Leben.
Die Journalistin Evelyn Roll hat selbst drei Biografien über Angela Merkel geschrieben und schon Teile der Memoiren gelesen. Die ehemalige Kanzlerin bleibe in ihrem Buch ihrer nüchternen Linie treu.
Die Journalistin und Merkel-Biografin Evelyn Roll
WDR: Was gibt es Neues in diesem Buch?
Evelyn Roll: Es sind offenbar ein paar nette Geschichten drin. Eine die mir besonders gut gefällt, ist, dass die evangelische Bundeskanzlerin sich offenbar Ratschläge beim Papst geholt hat, wie man mit diesen zerstrittenen Parteien und mit Putin umgeht. Der Papst hat etwas gesagt, was ich ziemlich klug finde: Biegen, biegen, biegen, aber nicht brechen. Schöner kann man nicht beschreiben, was Diplomatie in der heutigen Zeit bedeutet.
WDR: Was können wir alle eigentlich gemeinsam erwarten, wenn wir 730 Seiten lesen wollen, in denen eine Frau gemeinsam mit ihrer engsten Mitarbeiterin Auskunft über sich selbst gibt? Wozu kann uns das dienen?
Roll: Ich finde ja, dass es eine wahnsinnig spannende Lebensgeschichte ist. Die wird noch einmal und zwar jetzt aus erster Hand erzählt, offenbar in zwei Teilen, das hat eine schöne Klapp-Symmetrie. Die ersten 35 Jahre hat Angela Merkel in der DDR verbracht, jetzt sind wieder 35 Jahre um. Sie ist jetzt 70, war 16 Jahre Bundeskanzlerin und vorher acht Jahre bei Kohl im Kabinett, da gibt es schon eine Menge zu erzählen.
Aber ich habe auch schon gemerkt: Es wird halt so erzählt, wie sie auch immer war: bescheiden, Staatsdienerin, auf diese etwas nüchterne Art. Vielleicht sogar langweilig, aber dafür gut zu verstehen. Also da sind keine Effekthaschereien drin, keine spannenden Kapitelanfänge, keine Cliffhanger - vielleicht braucht man das auch nicht, wenn eine Lebensgeschichte so interessant ist.
WDR: Glauben Sie, Frau Merkel wäre jetzt auch an die Öffentlichkeit gegangen mit dieser Innensicht, wenn sich nicht in den letzten Jahren immer intensiver und auch in ihrer eigenen Partei die Erzählung verbreitet hätte, sie sei für anderthalb Jahrzehnte Stillstand in Deutschland verantwortlich? Glauben Sie, Frau Merkel versucht da jetzt einen Gegenpunkt zu setzen?
Roll: Das muss man vielleicht doppelt beantworten. Ich bin ziemlich sicher, dass sie dieses Buch geschrieben hätte. Ich bin auch sicher, dass sie überhaupt erst nachdenken kann, was sie mit dem Rest ihres Lebens macht, nachdem dieses Buch erschienen ist und sie also Gelegenheit hatte, ihre Geschichte aus ihrer Sicht zu erzählen. Das ist das eine.
Und das andere ist: Was erwarten wir denn? Erwarten wir, dass eine Frau wie Angela Merkel ein Buch schreibt, in dem steht "Oh Gott, oh Gott, oh Gott, ich hab alles falsch gemacht."? Ich denke, der Titel "Freiheit" bedeutet vielleicht auch, ich nehme mir die Freiheit, nochmal zu erklären, warum ich es alles so gemacht habe. Und ich nehme mir auch die Freiheit, dabei zu bleiben, dass es aus damaliger Sicht alles richtig war.
Angela Merkel mit Wladimir Putin in Wiesbaden
So wirkt es auch in den Passagen, die ich gelesen habe, wo es um Putin, um Nord Stream geht. Da steht niemals etwas wie "Oh entschuldigung, das hätte ich anders gemacht." Da steht höchstens: "Ich verstehe, dass wenn man heute draufguckt, es anders interpretieren kann." Aber hauptsächlich schreibt sie: "Das habe ich aus diesen und jenen Beweggründen damals so gemacht und ja, ich würde das heute wieder ganz genauso machen."
Ich habe dabei an Helmut Schmidt gedacht. Als er fertig war, wollten den alle in die Wüste jagen, auch die eigene Partei. Alles war falsch, zum Beispiel der NATO-Doppelbeschluss. Dann hat Schmidt Bücher geschrieben, in denen er erklärt hat, wie er es gemeint hat, und dann ist Zeit vergangen. Und dann hat er Glück gehabt, dass der Zeitgeist irgendwann auf dem Silbertablett vorbeikam und fand: Genau genommen hat er es doch richtig gemacht. Also wenn man ein bisschen von oben draufschaut, glaube ich, dass es (Anm. d. Redaktion: auch bei Merkel) so funktionieren könnte.
WDR: Sie glauben also, dieses Buch wird Angela Merkel helfen, einen Platz in der bundesdeutschen Geschichte zu finden, der angemessen für sie ist?
Ja, es ist eigentlich eine große Chance, wenn man bei Verstand und gesund ist und mit 70 auch eigentlich noch jung, nämlich genauso alt wie Merz, der jetzt anfangen will, und acht Jahre jünger als Trump, der mit seinem Vernichtungswerk in Amerika gerade erst anfängt - also es ist doch eine große Chance, in die historische Debatte die eigene Sicht einzubringen. Daran kann dann schon mal keiner mehr vorbei.
Alle können schreiben, was sie wollen und was sie denken. Aber alle müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass sie selber geschrieben hat, wie es damals in Budapest war. Sie hat geschrieben, dass sie bei Putin immer an die Stasi-Offiziere gedacht hat, die sie aus ihrer Jugend kannte. Also man kann an dieser Sicht jetzt nicht mehr vorbei.
Das Interview führte Uwe Schulz, transkribiert von Anna Palm.
Hinweis der Redaktion: Mehrere Formulierungen dieses Gesprächs haben wir für eine bessere Lesbarkeit minimal abgeändert, allerdings ohne dabei den Inhalt zu verfremden.
Über dieses Thema berichteten wir am 26.11.2024 im WDR Hörfunk: WDR 5 Morgenecho, ab 06 Uhr.